Ein opioidhaltiges Implantat zur Substitutionstherapie bei Opioidabhängigen – ist das eine gute Idee? Wir sprachen mit drei Experten aus der Community. Eine 360-Grad-Analyse.
Experten hierzulande sind skeptisch, denn viele Fragen sind ungeklärt. Das Implantat mit sechsmonatiger Wirkdauer wird für europäische Patienten ein Novum in der Therapie der Opioidabhängigkeit sein.
In den USA hingegen gibt es bereits solch ein Implantat zur Substitutionstherapie. Dort ist es unter dem Namen Probuphine (Titan Pharmaceuticals) bekannt. Es wird Patienten im Rahmen des „Probuphine REMS Program“ implantiert.
Dass diese Darreichungsform in den USA bereits verfügbar ist, kommt nicht von ungefähr. Alleine im Jahr 2017 sind 47.600 opioidabhängige Menschen in den USA an den Folgen einer Opioid- beziehungsweise Opiat-Überdosis gestorben – Tendenz steigend. Die Opioidkrise kostet dort täglich schätzungsweise mehr als 130 Menschen das Leben.
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In naher Zukunft könnte diese Darreichungsform auch für EU-Patienten zur Verfügung stehen. Im Frühjahr hat der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) eine Zulassungsempfehlung für ein Buprenorphin-haltiges Implantat namens Sixmo (Molteni Farmaceutici/Titan) ausgesprochen.
Sixmo ist indiziert bei klinisch stabilen erwachsenen Patienten, die im Rahmen einer medizinischen, sozialen und psychologischen Behandlung nicht mehr als 8 mg Buprenorphin (sublingual) pro Tag benötigen.
Das Implantat enthält 74,2 mg Buprenorphin und besteht aus vier kleinen Stäbchen, die in den Oberarm des Patienten implantiert werden. Hier geben sie kontinuierlich sechs Monate lang den Wirkstoff. Die Sicherheit und Wirksamkeit will der Hersteller in drei Zulassungsstudien an insgesamt 626 erwachsenen Patienten untersucht und belegt haben, wie aus der Pressemitteilung der EMA hervorgeht. Zudem seien die Nebenwirkungen des Implantats mit denen von Buprenorphin-Tabletten und anderen Implantaten vergleichbar.
Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge gibt es hierzulande rund 166.300 Opioidabhängige, wobei Männer den Großteil (ca. 75 %) ausmachen. Nicht alle befinden sich in einer Therapie, wie sich aus den Zahlen des Substitutionsregisters des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) schlussfolgern lässt. Denn im vergangenen Jahr wurden insgesamt 79.375 Patienten gemeldet. Die Auswertungen der Behörde zeigen, dass diese am häufigsten mit Methadon (39,4 %), Levomethadon (35,2 %) und Buprenorphin (23,1 %) behandelt wurden. Das sind Arzneistoffe mit unterschiedlichen pharmakologischen Profilen.
In den meisten Fällen von Opioidabhängigkeit müssen Abhängige lebenslang substituiert werden. Dabei dürfen Ärzte für die Behandlung nur die in der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) genannten Substitutionsmittel einsetzen. Buprenorphin gehört dazu.
Es weist ein relativ breites therapeutisches Fenster auf und hat im Vergleich zum häufig eingesetzten Methadon ein geringeres Risiko für eine Atemdepression. Denn Dosen über 24 bis 32 mg/Tag erhöhen die Wirkung auf die Atmungsaktivität nicht weiter (Ceiling-Effekt). Das lässt sich auf die partialagonistische Wirksamkeit zurückführen.
Da die Wirkung von Buprenorphin bis zu 72 Stunden anhält, kann es seltener eingenommen werden. Im Vergleich dazu hat Methadon eine Wirkdauer von etwa 24 Stunden.Er wird in Deutschland in verschiedenen Darreichungsformen vertrieben. Es sind unter anderem Monopräparate in Form von Sublingualtabletten und Transdermalpflaster, aber auch Kombi-Präparate im Handel.
Im Gegensatz zu Methadon und Levomethadon ist Buprenorphin ein partieller Opioid-Agonist/-Antagonist, der an die μ- und κ-Rezeptoren des ZNS bindet. Seine Wirksamkeit bei der Opioid-Erhaltungstherapie beruht auf seiner langsam reversiblen Bindung an die μ-Rezeptoren, die über einen längeren Zeitraum das Bedürfnis des abhängigen Patienten nach Drogen weitgehend reduziert. Auch deshalb scheint Buprenorphin ein geeigneter Arzneistoff für ein langwirksames Implantat zu sein.
Die Gründe für einen Substanzmissbrauch sind vielfältig, doch der dahinter liegende physiologische Mechanismus ist immer der gleiche: „Drogen aktivieren das Belohnungszentrum im Gehirn, was zu einem euphorischen Gefühl führt und dem Konsumenten den sogenannten ,Kick’ gibt. Bei diesem Prozess spielt auch die Anflutung der Substanz eine große Rolle; je schneller die Substanzen anfluten, desto größer ist im Regelfall das euphorisierende Gefühl“, erklärt Professor Dr. Jens Reimer vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg.
Ein Opioid-Implantat könne diesem Mechanismus entgegenwirken: „Das ist auf den kontinuierlichen Wirkspiegel von Buprenorphin zurückzuführen.“ Reimer erklärt: „Aufgrund der fehlenden oder geringer ausgeprägten Euphorie bei Verwendung solch eines Implantats wird die Motivation zum Drogenkonsum durch das Implantat selbst kaum verstärkt. Die Welt des Abhängigen dreht sich weniger um Drogenbeschaffung und -konsum. Er kann anderen Beschäftigungen nachgehen und beispielsweise erwerbstätig werden. Denn der tägliche Besuch beim Suchttherapeuten würde wegfallen.“
Doch das könne auch zum Nachteil werden: „Wenn die komplette Tagesstrukturierung des Patienten wegfällt, kann das bei manchen Betroffenen zu einer Leere führen.“ Als Chance sieht Reimer allerdings die mögliche Verbesserung der Versorgungslage im ländlichen Raum.
Weiterhin könnte die neue Applikationsmethode positive Effekte auf die Compliance haben sowie das Risikos für einen Missbrauch, einer (versehentlichen) Überdosierung und einer (versehentlichen) Einnahme von Buprenorphin verringern. Das Implantat könnte dabei helfen, den illegalen Vertrieb von Buprenorphin-Tabletten entscheidend einzudämmen.
Walcher zufolge könnte ein Einsatz von Sixmo bei Patienten, die berufsbedingt unregelmäßig auf Montage oder aber längerfristig in Haft sind, eine gute Therapiemöglichkeit darstellen. Auch das langsame Ausschleichen der Substitution könnte seiner Ansicht nach erleichtert werden.
Dennoch sieht er manche Dinge mit Sorge: „Wenn man einmal etwas injiziert oder implantiert, lässt sich daran nichts mehr ändern. Es kann passieren, dass das Mittel irgendwann nicht mehr in den Alltag der Patienten passt. Sie haben keine Verfügung mehr darüber, was mit ihrem Körper geschieht. Auch wenn Weitergabe oder Missbrauch damit ausfallen und größere Unabhängigkeit vom Arzt verlockend ist, schränkt die Applikationsform somit auch die Freiheit des Patienten ein.“
Der Experte ist unter anderem im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin und maßgeblich an der anstehenden Überarbeitung der deutschen Substitutionsleitlinien beteiligt. Sein Fazit: „Da bislang eine Guideline für Ärzte fehlt, in der auf langwirksame Formulierungen wie Injectabilia und Implantate eingegangen wird und auch für Monatsinjectabilia kaum Erfahrungen vorliegen, können wir derzeit noch kein Statement zu Sixmo, dem Langzeit-Buprenorphin-Implantat geben.“ Die Bewertung eines Arzneimittels sei erst möglich, wenn es auf dem deutschen Markt verfügbar sei.
Eine weiterer Suchtexperte, der die praktische Umsetzung im Alltag infrage stellt, ist Allgemeinmediziner Hans-Gerald H. Forg. In seiner Mainzer Praxis bietet er eine suchtmedizinische und psychosomatische Grundversorgung an. „Das Implantat ist derzeit Grundlage kontroverser Diskussionen“, sagt er. Aus wissenschaftlicher Sicht sei die neuartige Darreichungsform zwar zu begrüßen, allerdings könne es in der Praxis Schwierigkeiten für Arzt und Patient bereiten.
„Die größte Herausforderung ist aus meiner Sicht die Reisefähigkeit“, erklärt Forg, der in seiner Praxis 162 Suchtpatienten betreut. „Dadurch, dass der Patient mit dem beladenen Implantat eine sehr hohe Menge Betäubungsmittel im Körper hat, das für sechs Monate ,ausreicht’, kann eine Auslandsreise aus betäubungsrechtlicher Sicht sowohl für den Arzt als auch für den Patienten mit Problemen verbunden sein. Es gibt für jedes Betäubungsmittel Höchstverschreibungsmengen und das Mitführen höherer Mengen kann außerhalb des Zulassungsraumes problematisch sein.“
Normalerweise kann der Arzt dem Patienten Verschreibungen des Substitutionsmittels über eine für die Reise erforderliche Menge – maximal allerdings für 30 Tage – aushändigen. Das ist unter anderem durch das Schengener Abkommen geregelt. Doch wie sieht es mit einem Opioid-Implantat aus, das sechs Monate im Körper verbleibt? „Der Patient verstößt dann möglicherweise ständig gegen das jeweilige Betäubungsmittelgesetz des Landes“, so Forg.
Aber auch die Drogenkontrollen an den Flughäfen versieht er in diesem Zusammenhang mit einem großen Fragezeichen. Denn es sei unbestritten, dass es zu einem positiven Nachweis kommen könnte, mit möglicherweise strafrechtlichen Folgen für den Patienten. Diese Fragen seien aus Sicht von Forg nicht geklärt, bei der praktischen Umsetzung könne es deshalb zu Schwierigkeiten kommen.
Seinen Suchtpatienten könne er das Implantat wegen der beschriebenen Problematik nicht zumuten: „Ich habe ein ungutes Gefühl dabei, dem Patienten das Implantat einzubringen, weil er dadurch möglicherweise Einschränkungen im Alltag haben wird.“
Aber auch die Dosierung und Wirkstoffabgabe des Implantats können ihn nicht beeindrucken. Denn es ist bei klinisch stabilen erwachsenen Patienten indiziert, die nicht mehr als 8 mg sublinguales Buprenorphin pro Tag benötigen. Ein erwachsener Patient brauche im Allgemeinen ca. 16 mg pro 24 Stunden, damit alle Rezeptoren abgedeckt werden. „Der große Teil der Patienten wird vom Implantat daher nicht profitieren“, resümiert der Allgemeinmediziner.
Über die gut nachgewiesenen Wirkungen von Buprenorphin bei der Behandlung von Opioidabhängigkeit hinaus ist unklar, welche spezifischen Aspekte die Wirkstofffreisetzung via Implantat wesentlich zu seinem erweiterten klinischen Nutzen beitragen.
Diesen Punkt hatten die beiden US-Wissenschaftler Richard N. Rosenthal und Viral V. Goradia im Fachjournal Drug Design, Development and Technology 2017 bereits aufgegriffen. Auch scheint der Einsatz von Buprenorphin-haltigen Substitutionsmitteln mit unterschiedlicher Wirkdauer bei opioidabhängigen Patienten individuell wahrgenommen und präferiert zu werden, wie eine aktuelle Beobachtungsstudie nahelegt.
Die Vorliebe der Patienten begrenzt sich dabei nicht nur auf die Applikationsformen, sondern auch auf den Wirkstoff an sich. Suchtwissenschaftler Reimer erklärt: „Manche Patienten bevorzugen Methadon, weil sie durch den Arzneistoff abgeschirmter von Umweltreizen leben können. Buprenorphin hingegen hat diesen ,Abschirm-Effekt’ nicht.“
Buprenorphin habe daher den Vorteil, dass sich Patienten besser konzentrieren können als unter Methadon. Zudem würden sie Reize sowohl von innen als auch von außen mitbekommen. In der ärztlichen Praxis ist daher zu erwarten, dass das Implantat nicht immer die Compliance verbessert. Grund dafür könnte sein, dass sich Opioidabhängige beispielsweise nicht ausreichend betreut fühlen, weil ihnen der Kontakt zum medizinischen Fachpersonal fehlt.
Das bestätigt auch Walcher, der in München die Schwerpunktpraxis „CONCEPT“ für Drogenabhängige leitet. Für ihn ist eine Substitutionstherapie mehr als nur eine bloße Mittelvergabe. „Substitution bedeutet auch immer den Versuch, eine langfristige Bindung zum Patienten aufzubauen.
Mit diesen Darreichungsformen ist solch ein Bindungsaufbau aber deutlich erschwert, weil die regelmäßige ärztliche Konsultation wegfällt“, erklärt er. „Suchtarbeit ist immer Beziehungsarbeit, und die gelingt bei derart niedriger Besuchsfrequenz nur schwer.“
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bestimmte Patientengruppen vom Buprenorphin-haltigen Implantat profitieren könnten. Allerdings ist die Alltagstauglichkeit in Deutschland unter Experten umstritten.
Bildquelle: William Isted, Unsplash