Typ-1-Diabetes beginnt lange, bevor die ersten klinischen Symptome auftreten. Experten empfehlen deshalb ein neues Klassifikationsschema für die Autoimmunkrankheit, mit der diese früher als bisher diagnostiziert werden könnte.
Typ-1-Diabetes wird fast immer erst entdeckt, wenn sich Symptome wie übermäßiger Durst, häufiges Wasserlassen, starke Gewichtsabnahme oder Müdigkeit bemerkbar machen. Bei jedem dritten Patienten stellen Ärzte die Diagnose sogar erst, wenn der Patient als Notfall mit einer Ketoazidose ins Krankenhaus eingeliefert wird. „Diese Stoffwechselentgleisung erfordert unbedingt eine sofortige intensivmedizinische Betreuung, da sie sonst tödlich enden kann“, sagt Peter Achenbach, stellvertretender Direktor des Instituts für Diabetesforschung am Helmholtz Zentrum München. Um den Patienten ein solches Szenario zu ersparen, hat nun ein internationales Forscherteam ein aus drei Stadien bestehendes Schema zur Klassifikation des Typ-1-Diabetes definiert, mit dessen Hilfe sich die Krankheit bereits lange Zeit vor Auftreten der ersten klinischen Symptome diagnostizieren lässt. Bei seiner Anwendung könnten Betroffene frühzeitig erfahren, ob sie an einem Prädiabetes erkrankt sind, und hätten dann die Möglichkeit, schneller zu reagieren, wenn die ersten klinischen Symptome auftreten, finden die Wissenschaftler um Anette-Gabriele Ziegler, Direktorin des Instituts für Diabetesforschung am Helmholtz Zentrum München.
Typ-1-Diabetes ist eine häufige Autoimmunerkrankung, bei der das körpereigene Abwehrsystem die Betazellen in der Bauchspeicheldrüse angreift und zerstört. Diese Zellen produzieren normalerweise Insulin, das notwendig ist, damit insbesondere Leber- und Muskelzellen den Zucker aus dem Blut aufnehmen und ihn in Energie umwandeln können. In den vergangenen Jahren ist die Erkrankungsrate insbesondere bei Kleinkindern deutlich angestiegen. Aber auch Erwachsene können an Typ-1-Diabetes erkranken: Bei knapp der Hälfte der Patienten treten die typischen klinischen Symptome erst nach dem 20. Lebensjahr auf. Über die Ursachen von Typ-1-Diabetes wissen Forscher immer noch sehr wenig: „Neben einer Reihe von Risikogenen spielen sehr wahrscheinlich Umweltfaktoren eine wichtige Rolle“, sagt Achenbach. In einer früheren Studie hatten die Forscher um Ziegler nachgewiesen, dass beispielsweise häufige Atemwegsinfektionen bei sehr kleinen Kindern das Erkrankungsrisiko erhöhen. Der multifaktoriell bedingte Autoimmunprozess gegen die Betazellen setzt schon Monate oder Jahre vor dem Einsetzen der klinischen Symptome ein.
Erstes diagnostisches Anzeichen für den langsamen Niedergang der Betazellen sind meistens Antikörper gegen Insulin. Wenn sich die Autoimmunität ausweitet, lassen sich im Blut der Betroffen weitere spezifische Antikörper nachweisen: Sie richten sich gegen Zielstrukturen, die auf den Betazellen vorkommen, und sind alle mit einem hohen Erkrankungsrisiko verbunden. Wie hoch das Risiko bei Kindern ist, dass das Auftreten dieser Antikörper letztendlich in einen klinisch manifesten Diabetes mündet, hatten Ziegler und weitere Forscher bereits in einer anderen Studie untersucht. Das Ergebnis war eindeutig, so Achenbach: „Wenn ein Kind mehrere dieser Autoantikörper in seinem Blut aufweist, wird es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit über kurz oder lang an Typ-1-Diabetes erkranken.“ In ihrer aktuellen Veröffentlichung schlagen die Forscher um Ziegler deshalb vor, vom Stadium 1 der Krankheit zu sprechen, sobald zwei oder mehr dieser Antikörper nachweisbar sind. In dieser Prädiabetes-Phase liegen die Blutzuckerwerte noch im Normbereich.
Schreitet die Zerstörung der Betazellen durch den Autoimmunprozess weiter fort, fängt das Stadium 2 an und es kommt zu einem immer langsameren Abbau des Blutzuckers. Die Fehlsteuerung des Glukose-Stoffwechsels wird als Dysglykämie bezeichnet und lässt sich durch die Bestimmung der Blutzuckerwerte ebenfalls gut nachweisen. Erst wenn fast alle Betazellen zugrunde gegangen sind, befinden sich Betroffene im Stadium 3, in dem die typischen klinischen Symptome auftreten. Das Einteilen der Krankheit in mehrere Stadien könnte sich positiv auf die zukünftige Behandlung von Betroffenen auswirken: Patienten, bei denen vorab eine Vorstufe des Typ-1-Diabetes nachgewiesen wurde und die deshalb unter medizinischer Kontrolle standen, hatten bei Auftreten der ersten Symptome seltener Stoffwechselentgleisungen und wiesen einen besseren Blutzuckerwert auf. „Diese Patienten müssen seltener und kürzer im Krankenhaus betreut werden als diejenigen, die vom Eintritt ihrer Erkrankung überrascht werden“, erklärt Achenbach. „Eine rechtzeitige Aufklärung und Schulung der Patienten stellt sicher, dass diese die ersten klinischen Symptome nicht verkennen.
Denn 85 Prozent der Patienten haben keinen Fall von Typ-1-Diabetes in ihrer Verwandtschaft, die Diagnose trifft sie und ihre Angehörigen wie ein Blitzschlag. Außerdem, so Achenbach, werde bei einem überraschenden Krankheitsausbruch die Gelegenheit verpasst, früh mit kleinen Mengen die Insulinbehandlung zu beginnen. Ein solcher Therapiestart hilft bei der richtigen Einstellung des Blutzuckers und vermeidet Folgeschäden. Seit Januar 2015 untersuchen Ziegler und Achenbach in der groß angelegten Fr1da-Studie den Immunstatus bei gesunden Kindern im Alter von zwei bis fünf Jahren. Der Grund für die Auswahl: „In dieser Altersgruppe ist das Risiko am größten, eine Autoimmunität gegen Betazellen zu entwickeln“, so Achenbach. Insgesamt rund 100.000 Kindern in Bayern soll das kostenlose und freiwillige Screening auf die vier häufigsten Autoantikörpern angeboten werden. Im Falle eines positiven Testergebnisses können Kinder und deren Angehörigen an umfangreichen Schulungsprogrammen teilnehmen. „Unser Hauptziel ist es, zu verhindern, dass Kinder aufgrund einer Ketoazidose die Manifestation der Krankheit in der Intensivstation eines Krankenhauses erleben“, erläutert Achenbach.
Zusätzlich bieten die Forscher positiv getesteten Kindern mit einer ausgeprägten Autoimmunität, die aber noch keine Dysglykämie haben, die Teilnahme an einer Präventionsstudie an. In deren Rahmen erhalten die kleinen Patienten mehrere orale Gaben von Insulin, das vom Körper über die Schleimhäute aufgenommen und von speziellen Immunzellen erkannt wird. Diese Art Impfung soll die Immuntoleranz gegen Insulin anregen und so die Autoimmunität gegen das körpereigene Insulin reduzieren. „Die regulative Immunantwort gegen Insulin ist bei diesen Kindern gestört und könnte durch die Behandlung wieder hergestellt werden“, erklärt Achenbach. Auch andere Experten gehen davon aus, dass die Untersuchung von Kleinkindern auf Betazell-spezifische Autoantikörper in Zukunft routinemäßig stattfinden wird: „In den vergangenen Jahren hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen. Man spricht jetzt schon von Diabetes, wenn der Patient eine deutliche Autoimmunität im Blut aufweist, aber noch keinen erhöhten Zuckerspiegel hat“, sagt Thomas Danne, Chefarzt für Diabetologie, Endokrinologie und Allgemeine Pädiatrie und klinische Forschung am Kinderkrankenhaus auf der Bult in Hannover. Danne plant ebenfalls ab Mitte 2016 im Rahmen einer Studie Kleinkinder aus Niedersachsen auf die spezifischen Antikörper zu testen. Er hofft, dass diese Studie und auch die Fr1da-Studie endgültig bestätigen, dass eine zuverlässige Frühdiagnostik in der Gesamtbevölkerung möglich ist. Auf diese Weise, so der Forscher, ließen sich die kostspieligen Folgen einer späten Diagnose vermeiden.