Gegen Zähneknirschen gibt es keine Therapie. So steht es in einer Pressemitteilung zur ersten Bruxismus-Leitlinie für Zahnärzte. Damit sind nicht alle einverstanden: Physiotherapeuten kritisieren, dass sie komplett ignoriert wurden.
Vor kurzem berichteten wir über Bruxismus und die erste „Knirsch-Leitlinie“. In der Pressemitteilung zur neuen Leitlinie wird folgende Aussage getroffen: „Da gegenwärtig keine Therapie zur Heilung oder zur Beseitigung von Bruxismus bekannt ist, zielt die Behandlung vor allem auf den Schutz der Zähne und der Restaurationen, die Reduktion der Bruxismusaktivität und die Linderung von Schmerzen ab.“ Diese Aussage stieß besonders bei Physiotherapeuten auf großes Unverständnis, da sie viele Patienten erfolgreich behandeln. User kommentierten direkt unter dem Artikel, aber auch auf Facebook wurde die Leitlinie diskutiert:
Herbert Flach, Physiotherapeut aus Kirchheim/Teck kommentierte beispielsweise: „Keine Therapie? Ich arbeite [...] seit 26 Jahren mit Zahnärzten und Zahnkliniken an Patienten mit craniomandibulärer Dysfunktion (CMD) und Bruxismus erfolgreich zusammen! [...] Auch prä- und postoperative physiotherapeutische Anwendungen im Bereich der Kieferhöhle, der Kaumuskulatur sowie der gesamten HNO- und Schulter-/Nackenregion sind äußerst sinnvoll und tragen zur schnelleren Rehabilitation und der besseren Lebensqualität der betroffenen Patienten bei!“
Beim Zähneknirschen und -pressen handelt es sich um eine Verhaltensweise, die bei stärkerer Ausprägung zu relativ einheitlichen Symptomen wie Verschleiß der Zähne, Kieferproblemen und Muskelschmerzen führt. Die Gründe für den Bruxismus sind jedoch unklar und vielfältiger Natur: Es werden psychosoziale (wie Stress und Angst), physiologische (z. B. Genetik) und exogene Ursachen (u. a. Alkohol‑, Kaffee‑ oder Medikamentenkonsum, Rauchen) sowie ein multifaktorieller Hergang vermutet. Entsprechend fällen Ärzte in der täglichen Praxis individuell unterschiedliche Entscheidungen über den besten Ansatz zur Behandlung. Dazu zählen u. a. Zahnschienen, Verhaltenstherapien, Physiotherapie, Biofeedback und ggf. pharmakologische Behandlungen. Für einige dieser Therapiemethoden gibt es jedoch nur wenige wissenschaftliche Nachweise für die Wirksamkeit, und hier liegt der Hase im Pfeffer.
3D-Modell der menschlichen Kaumuskulatur
Der allererste Satz der Leitlinie lautet: „Primärer Bruxismus gilt derzeit nicht als ursächlich heilbar.“ Daraus ergibt sich, dass die Therapie in Richtung Schadensbegrenzung geht, indem lediglich die daraus resultierenden Symptome behandelt werden, beispielsweise durch Zahnschienen, die den weiteren Verschleiß der Zähne mindern, oder Schmerzlinderung bei Muskelverspannungen.
Für die Therapieempfehlungen stützten sich die an der Leitlinie beteiligten Experten auf wissenschaftliche Literatur, die seit 1996 erschienen ist.
Einig waren sich die Experten im Hinblick darauf, dass Betroffene – denen meist gar nicht bewusst ist, dass sie mit den Zähnen knirschen oder pressen – im Wachzustand diesbezüglich achtsam ihr Verhalten beobachten sollten. Auch auf die Wirksamkeit der Verwendung von Zahnschienen gab es genügend Hinweise.
Progressive Muskelentspannung und Biofeedback wurden ebenfalls für nützlich befunden, für die Beurteilung des Effektes kognitiver Verhaltenstherapien waren jedoch nicht genügend Belege vorhanden.
Der Erfolg physiotherapeutischer Behandlungen wurde nur von einer Handvoll Studien betrachtet, deren Qualität aus verschiedenen Gründen kritisiert wurde: Zwei Übersichtsartikeln wurden Verzerrungen und eine schlechte Evidenz der aufgenommenen Studienartikel vorgeworfen, in anderen Fällen wurde bemängelt, dass die Teilnehmerzahlen gering waren, keine Langzeitergebnisse beschrieben wurden oder Veränderungen in der Elektromyografie vor und nach einer Behandlung mit einer Wirkung auf den Bruxismus gleichgesetzt wurden. So kam man schließlich zu der offenen Empfehlung: „Für die Behandlung von CMD-Symptomen, die möglicherweise durch Bruxismus getriggert werden, kann eine Verordnungskombination aus manueller Therapie und ergänzendem Heilmittel wie Kälte- oder Wärmeanwendung erwogen werden.“
Auch systemische Behandlungen werden nicht empfohlen, weil die Studien mit medikamentösen Behandlungen auf wenigen Patienten basierten und von geringer Dauer waren. Laut Leitlinie können Injektionen mit Botulinumtoxin im off-label Use erwogen werden, da sie langfristig zu einer Reduktion von Schmerzen und der Intensität der Kaumuskelaktivität geführt hatten.
Unter dem Strich könnte man es also so (fehl)interpretieren, dass Physiotherapie höchstens eine Nebenrolle spielt und stattdessen neben Zahnschienen und Entspannungsübungen am ehesten Botulinumtoxin in Betracht gezogen werden – was an der Realität und auch an der Empfehlung der Leitlinie jedoch klar vorbeigeht.
Manche Physiotherapeuten behandeln während ihrer Laufbahn zahlreiche zähneknirschende Patienten mit Kieferschmerzen, der Löwenanteil dieser Behandlungserfolge wird aber nicht zu generellen Betrachtungen und Ergebnissen aufsummiert und dokumentiert, sondern verbleibt im Erfahrungsschatz der Therapeuten. Oft bleibt unklar, ob die Symptome nur vorübergehend gelindert werden oder ob den Betroffenen mit der Behandlung dauerhaft geholfen ist – sie könnten sich schließlich beim nächsten Mal an jemand anders gewendet haben.
Dennoch gibt es viele Berichte von Therapeuten und Betroffenen, die gute Behandlungserfolge schildern. So kommentiert eine Apothekerin unter dem DocCheck-Artikel: „Bin enttäuscht von (fehlender) Therapieempfehlung! Hatte selbst massive Probleme. Schlafen ohne Beißschiene vom Zahnarzt war unmöglich. Und alle 3-5 Monate brauchte ich eine neue, weil sie durchgeschert war. Seit meine Physiotherapeutin mich behandelt hat (Craniosacral & Maßnahmen im HWS-, Schulter- und Kieferbereich) kann ich wieder normal schlafen!"
Ima Feurer, Physiotherapeutin und orthopädische Manualtherapeutin (IFOMPT – International Federation of Orthopaedic Manipulative Physical Therapists) hat als Spezialistin für Craniomandibuläre Dysfunktionen für den Deutschen Verband für Physiotherapie (ZVK) an der Erstellung der Leitlinie mitgewirkt. Sie hat die fehlende Evidenz für die Wirkung der Physiotherapie auf den Bruxismus aus der Leitlinie zum Anlass genommen, in einem jüngst veröffentlichten Fachartikel die Einflussmöglichkeiten von Physiotherapeuten bei der Behandlung und Evaluation des Bruxismus zu beschreiben.
Sie erläutert: „Physiotherapeuten behandeln die Funktionsstörungen, die sich aus dem Bruxismus ergeben, aber es gibt keine Beweise dafür, dass der Bruxismus selbst sich dadurch ändert.“ Sie schreibt, dass es das Ziel der Physiotherapie ist, die bruxistischen Aktivitäten zu verändern, damit Überlastungserscheinungen vermieden werden. Dafür stehen z. B. die progressive Muskelentspannung nach Jakobson, die Korrektur der Körperhaltung sowie Wahrnehmungs- und Entspannungsübungen zur Verfügung, wobei die gute Instruktion durch die Physiotherapeuten sowie die Mitarbeit der Patienten entscheidend sind.
Prof. Dr. Ingrid Peroz, Oberärztin in der Abteilung für Zahnärztliche Prothetik, Alterszahnmedizin und Funktionslehre an der Charité, war federführend an der Erstellung der Leitlinie beteiligt. Sie betont, dass Physiotherapeuten wichtige Begleiter für die Therapie der Symptome sind, die aus Bruxismus entstehen: „Physiotherapeuten können den Betroffenen wertvolle Hilfestellung geben, was die Muskelentspannung und die Folgen des Bruxismus betrifft. Die Therapieform ist für die Patienten sehr angenehm, weil sie eine persönliche Zuwendung mit sich bringt. Darin steckt ein großes Potential, weil der Patient dies positiv bewertet, was für die Mitarbeit und das Selbstmanagement wichtig ist. Die wiederkehrenden Termine bringen nach und nach die Hürden der Betroffenen zutage und ermöglichen den Therapeuten ein individuelles Vorgehen. Dies geht in der Zahnarztpraxis unter.“
Feurer kommt ebenfalls zu dem Schluss: „Physiotherapeuten machen eine wunderbare Arbeit, die gut wirkt, und sie sind wertvolle Partner für die Behandlung des Symptomkomplexes, der aus Bruxismus entsteht. Vielleicht können interdisziplinäre Studien zur besseren Evaluation des Managements von Bruxismus beitragen.“
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