Der Gebrauch von SSRI während der Schwangerschaft ist mit einem erhöhten Autismus-Risiko beim Kind assoziiert – mit diesem Ergebnis einer jüngst veröffentlichten Studie machten Forscher Schlagzeilen. Doch was ist wirklich dran?
Nach der Veröffentlichung der Studie in JAMA Pediatrics [Paywall] im Dezember 2015 war die Berichterstattung von Schreckensmeldungen geprägt – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass selbst die offizielle Pressemitteilung den angstschürenden Titel „Einnahme von Antidepressiva während der Schwangerschaft erhöht das Autismus-Risiko um 87 %“ trägt. Tatsächlich aber handelt es sich hier um das relative Risiko: Die Forscher ermittelten, dass bei 31 von 2.532 Kindern (1,22 %), deren Mütter im zweiten oder dritten Trimester Antidepressiva verwendet hatten, eine Autismus-Spektrum-Erkrankung (ASD) diagnostiziert wurde. Zum Vergleich: Von den 140.732 Kindern, die nicht in utero Antidepressiva ausgesetzt worden waren, erkrankten 1.008 (0,72 %) an ASD. Dies entspricht einer angepassten Hazard-Ratio von 1,87 (95 %-Konfidenzintervall 1,15–3,04), was gut zu den Ergebnissen eines systematischen Reviews aus demselben Jahr passt. In diesem wurde zwar nicht der Zeitpunkt der pränatalen Antidepressiva-Exposition untersucht, aber über die gesamte Schwangerschaft betrachtet ergab sich eine angepasste Odds-Ratio von 1,81 (95 % Konfidenzintervall 1,47–2,24). Interessanterweise ließ sich in der JAMA-Pediatrics-Studie nur für selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) ein erhöhtes ASD-Risiko nachweisen, für die anderen Antidepressiva-Klassen wie SNRI, MAO-Inhibitoren und trizyklische Antidepressiva fand sich dagegen kein statistisch signifikant erhöhtes Risiko. „Es ist biologisch plausibel, dass Antidepressiva Autismus verursachen, wenn diese zum Zeitpunkt der Gehirnentwicklung im Mutterleib verwendet werden, denn Serotonin spielt bei zahlreichen prä- und postnatalen Entwicklungsprozessen eine Rolle, einschließlich der Zellteilung, der Migration von Neuronen, der Zelldifferenzierung und der Synaptogenese“, erklärt Dr. Anick Bérard, Hauptautorin der Studie und Professorin an der Pharmazeutischen Fakultät der Universität von Montreal, Kanada.
Für die registerbasierte Kohortenstudie wertete die Gruppe um Prof. Bérard die Daten der Québec Pregnancy/Children (QPC) Kohorte aus. In die Analyse einbezogen wurden alle reifgeborenen Einlinge, die zwischen dem 1. Januar 1998 und dem 31. Dezember 2009 geboren wurden. Diese 145.456 Säuglinge wurden über einen Zeitraum von 904.035,5 Personenjahren beobachtet. Die große Fallzahl macht die Analyse aussagekräftig und stellt eine der größten Stärken der Studie dar. Antidepressiva-Exposition definierten die Forscher als eine Abgabe von Antidepressiva während der Schwangerschaft – eine Schwäche der Studie, denn ob die abgegebenen Medikamente tatsächlich von der werdenden Mutter eingenommen wurden, ließ sich nicht aus den Registerdaten ermitteln. Um die angepasste Hazard-Ratio zu ermitteln, wurden verschiedene Variablen wie soziodemographische Daten, psychiatrische und chronisch-physische Komorbiditäten der Mutter sowie Charakteristika des Säuglings bei der Datenanalyse berücksichtigt.
Der Studie zufolge war dagegen eine Antidepressiva-Exposition ein Jahr vor Schwangerschaftsbeginn ebenso wie eine Exposition im ersten Trimester nicht mit einem erhöhten Autismus-Risiko assoziiert (angepasste Hazard Ratio 1,05 bzw. 0,84) – im Gegensatz zur Einnahme von Antidepressiva im zweiten oder dritten Trimester. „Während dieser Zeit findet die kritische Gehirnentwicklung des Kindes statt“, so Bérard. Das klingt zwar plausibel – doch den Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen ASD und Antidepressiva-Konsum kann ihre Studie nicht liefern. Andere Studien kommen zudem zu völlig anderen Ergebnissen: Bereits 2011 kam eine populationsbasierte Fall-Kontroll-Studie (allerdings mit geringen Fallzahlen) zu dem Ergebnis, dass die Exposition während des ersten Trimesters das höchste Risiko für ASD birgt (angepasste Odds-Ratio 3,8; 95 %-Konfidenzintervall 1,8–7,8). Einer 2013 veröffentlichten Studie zufolge war nicht nur die SSRI-Exposition in utero mit einem erhöhten ASD-Risiko assoziiert (angepasste Odds-Ratio 1,65; 95 %-Konfidenzintervall 0,90–3,03), sondern auch die Einnahme trizyklischer Antidepressiva (angepasste Odds-Ratio 2,69; 95 %-Konfidenzintervall 1,04–6,96). Wieder andere Studien kommen zu dem Schluss, dass eine pränatale Exposition gegenüber Antidepressiva überhaupt keinen signifikanten Effekt auf das ASD-Risiko hat. Hierzu gehören sowohl eine 2013 veröffentlichte, große dänische Kohortenstudie als auch zwei US-amerikanische Studien (2015 [Paywall] und 2016 veröffentlicht). Bei so vielen widersprüchlichen Ergebnissen ist nur die Unsicherheit sicher.
SSRI sind aber nicht nur aufgrund des ASD-Verdachts in Verruf geraten, es gibt beispielsweise auch Hinweise auf eine Assoziation zwischen pränataler SSRI-Exposition und einem erhöhten Risiko für angeborene Fehlbildungen [Paywall], Frühgeburten, geringes Geburtsgewicht, persistierende pulmonale Hypertonie und Verhaltensstörungen. Die Entscheidung, antidepressive Medikamente während der Schwangerschaft einzusetzen, bleibt also schwierig. Einerseits gilt es, die Risiken der Behandlung für das ungeborene Kind zu bedenken, andererseits müssen aber auch die Konsequenzen einer Nicht-Behandlung in Erwägung gezogen werden. Depressionen während einer Schwangerschaft treten mit einer Prävalenz von ca. 6 bis 17 % [Paywall] auf und sind mit erheblichen gesundheitlichen Risiken für die Mutter und das ungeborene Kind verbunden. Dazu gehören beispielsweise Spontanabort, Frühgeburtlichkeit und geringes Geburtsgewicht. Hinzu kommt, dass Suizide zu den häufigsten Todesursachen während der Schwangerschaft und ein Jahr postpartum gehören. Ein reflexhaftes Absetzen von Antidepressiva aufgrund der nun veröffentlichten Ergebnisse ist also nicht ratsam. „Es geht immer auch darum, die Frauen umfassend aufzuklären, wie groß ein bestimmtes Risiko tatsächlich ist und wodurch es tatsächlich ausgelöst wird. Es ist wichtig, die Angst zu nehmen und die vermeintliche Schuld“, meint auch Dr. Antje Heck, Fachärztin für klinische Pharmakologie und Toxikologie und Leiterin der Spezialsprechstunde „Medikamente in Schwangerschaft und Stillzeit“ der Psychiatrischen Dienste Aargau AG (PDAG) in der Schweiz. „Ich denke, dass es primär wichtig ist, die Risiken einer psychischen Erkrankung für Mutter und Kind nicht zu vernachlässigen und diese in Relation zum Nebenwirkungspotenzial der entsprechenden Medikamente zu betrachten. Diese Einschätzung ist eine individuelle, zeitintensive und mitunter sehr komplexe Sache.“ Originalpublikation: Antidepressant Use During Pregnancy and the Risk of Autism Spectrum Disorder in Children [Paywall] Takoua Boukhris et al.; JAMA Pediatr., doi: 10.1001/jamapediatrics.2015.3356; 2015