Ein Experte kritisiert: Bisher empfehlen Ärzte viel und begründen wenig, wenn es um die Therapie von Tic-Störungen geht. Jetzt gibt es eine neue US-Leitlinie.
Wiederholte, plötzlich auftretende Bewegungen oder Laute, die keinem Zweck dienen und das unwiderstehliche Bedürfnis, sie auszuführen – diese Verhaltensweise definiert man als Tics. Beispiele sind unter anderem heftiges wiederholtes Blinzeln oder ständiges Räuspern, aber auch das Wiederholen von Silben oder das Rufen ganzer Sätze, die nicht der Kommunikation dienen. Beim Tourette-Syndrom treten neben motorischen auch vokale Tics auf, der Verlauf ist meist chronisch. Bisher ist wenig bekannt darüber, wie Tic-Störungen entstehen und welche Faktoren den Schweregrad und den Verlauf beeinflussen. Auch die Datenlage zur Behandlung von Ticstörungen ist bisher nicht sehr gut. Kann die neue US-Leitlinie Abhilfe schaffen?
10 bis 15 Prozent der Kinder im Grundschulalter sind von Tics betroffen, die jedoch meist leicht und vorübergehend sind. Häufig beginnen sie zwischen dem 6. und 8. Lebensjahr, sind zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr am stärksten und gehen bei 90 Prozent der Betroffenen im Jugendalter von selbst wieder zurück. Ein Tourette-Syndrom ist deutlich seltener: Weltweit ist etwa ein Prozent der Bevölkerung betroffen. Auch hier bessern sich die Tics häufig mit zunehmendem Alter. So sind 18 Prozent der Betroffenen über 16 Jahren sechs Jahre nach der Diagnose ticfrei, 60 Prozent haben nur noch gering ausgeprägte Tics.
Neben rein aufklärenden und verhaltenstherapeutischen Ansätzen werden auch Medikamente zur Behandlung der Tics eingesetzt. Nun hat die American Academy of Neurology (AAN) eine neue US-Leitlinie für Tic-Störungen veröffentlicht, die einheitliche Empfehlungen zur Diagnostik und Behandlung geben soll. Sie wird auch von der European Academy of Neurology (EAN) unterstützt. Bisher liegt in Europa eine Leitlinie der European Society for the Study of Tourette Syndrome (ESSTS) von 2011 vor – mit geringem Evidenzgrad. Welche Vorteile bringt die neue Leitlinie? Und was ist kritisch zu sehen?
Veit Roessner ist einer der Koautoren der US-Leitlinie. Foto: Thomas Albrecht, UKD
Für die Erstellung der Leitlinie trugen die Autoren alle bisher verfügbare Evidenz zusammen und leiteten daraus Empfehlungen ab. „Bisher gibt es in den USA oder in Europa keine Leitlinie auf S3-Niveau. Die neue Leitlinie versucht, dies zu ändern“, sagt Veit Roessner, einer der Koautoren der Leitlinie und Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus an der TU Dresden. „Dazu muss man sagen, dass die Datenlage zur Behandlung von Tics bisher unzureichend ist. Es gibt relativ wenige qualitativ hochwertige Studien zu den einzelnen Medikamenten, zudem waren an den Studien oft Pharmafirmen beteiligt. Darüber hinaus werden die Empfehlungen häufig ohne ausreichende Begründung gegeben.“
Allgemein werden in der Leitlinie folgende Punkte als wichtig erachtet:
Die Behandlung kann dabei Psychoedukation, verhaltenstherapeutische Maßnahmen und, wenn angebracht, eine Medikation umfassen. „Wichtig ist auch, dass die Diagnostik immer von einem Spezialisten, etwa einem Kinder- und Jungendpsychiater, durchgeführt wird“, sagt Roessner. Da Patienten mit Tics und insbesondere mit Tourette-Syndrom häufig weitere psychische Erkrankungen haben, sollte laut Leitlinie auch auf komorbide Störungen geachtet werden – insbesondere auf eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), Zwangsstörungen, Angststörungen und Depressionen. Liegen komorbide psychische Erkrankungen vor, sollten sie entsprechend – etwa mit einer Psychotherapie oder Medikamenten – behandelt werden.
Bei der Behandlung empfiehlt die Leitlinie im ersten Schritt eine Psychoedukation, die dazu beitragen soll, die Tic-Störung besser zu verstehen und besser damit umgehen zu können. Dabei werden die Eltern und ihr Kind, aber auch Lehrer und Mitschüler in verständlicher Weise über die Symptome der Tic-Störung, ihren Verlauf, den Umgang mit den Tics und die Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt. Wichtig sei, darüber zu informieren, dass sich die Tics in der späten Jugend häufig von selbst bessern – dies könne die Betroffenen und ihre Eltern sehr entlasten.
Gleichzeitig sollten sie aber auch wissen, dass eine Behandlung zwar die Häufigkeit und Schwere der Tics verringern kann, aber selten dazu führt, dass sie ganz verschwinden. Die Aufklärung von Lehrern und Mitschülern sei wichtig, weil die Betroffenen häufig stärker unter den Reaktionen ihrer Umwelt – wie Unverständnis oder Hänseleien – litten als unter den Tics selbst. Ansonsten sei bei leicht ausgeprägten Tics aufmerksames Abwarten (watchful waiting) eine akzeptable Strategie, so die Leitlinie.
Führen die Tics jedoch zu starker emotionaler Belastung, sozialen Beeinträchtigungen, Schmerzen oder deutlichen körperlichen Beeinträchtigungen, sollte laut Leitlinie als Behandlungsansatz erster Wahl verhaltenstherapeutische Maßnahmen zum Einsatz kommen. Dabei wird insbesondere das Multikomponentenprogramm „Comprehensive Behavioral Intervention for Tics“ (deutsch: CBIT-Verfahren) genannt, das neben Psychoedukation ein Habit-Reversal-Training (HRT), ein Entspannungstraining und Belohnungen umfasst, die die Behandlungsmotivation erhöhen sollen. Beim Habit-Reversal-Training wird zunächst die Selbstwahrnehmung verbessert, anschließend wird ein alternatives Verhalten zum Tic eingeübt. Sobald der Betroffene spürt, dass der Tic auftreten wird, soll er das alternative Verhalten einsetzen, um das Auftreten des Tics zu verhindern.
Laut Leitlinie ist die Evidenz für verhaltenstherapeutische Maßnahmen gut: So hat eine Reihe von Studien gezeigt, dass sie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen wirksam sind und keine bedeutsamen Nebenwirkungen haben. „Die Empfehlung, Tics zunächst nur mit Psychoedukation und gegebenenfalls mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen zu behandeln, ist aus meiner Sicht sehr sinnvoll“, sagt Roessner dazu. „Dabei halte ich insbesondere die Aufklärung des Umfelds für wichtig. Denn wenn es gelingt, dass Mitschüler und Lehrer die Tics akzeptieren, kann dies die psychische Belastung des Kindes deutlich verringern. Dann ist häufig keine weitere Behandlung erforderlich.“
Bei Tics, die zu deutlichen körperlichen, psychischen oder sozialen Beeinträchtigungen führen und bei denen das CBIT nicht zum Erfolg führt, können laut Leitlinie als Therapie zweiter Wahl Medikamente eingesetzt werden. Dabei sollten die Nebenwirkungen im Auge behalten und von Zeit zu Zeit überprüft werden, ob die Medikation weiterhin notwendig ist. Bei vielen Medikamenten sei zudem ein ausschleichendes Absetzen wichtig. „Dieses Vorgehen ist aus meiner Sicht sinnvoll“, sagt Roessner. „Außerdem sollte man über eine Medikation nachdenken, wenn die Tics wandern, wenn sie das Kind stark beeinträchtigen oder wenn sie den Unterricht deutlich stören.“
Allerdings sei die Evidenz für die Wirksamkeit der verschiedenen Medikamente bisher gering, betont Roessner. So kommt die Leitleine zu der vagen Aussage, eine Medikament dann zu verordnen, wenn „der Nutzen die Risiken übersteigt.“ „Das bedeutet, dass hier die klinische Erfahrung eines Kinder- und Jugendpsychiaters sehr wichtig ist, etwa mit der Wirkung und den Nebenwirkungen eines Medikaments“, so Roessner. „Außerdem ist es häufig notwendig, ein Medikament auszuprobieren – und dabei auch Geduld zu haben und abzuwarten, wie gut es wirkt.“
Doch welche Medikamente sollten nun bevorzugt eingesetzt werden? Moderate Evidenz für die Wirksamkeit bei Tics gibt es laut Leitlinie für den Alpha-2-Agonisten Clonidin, die Neuroleptika Haloperidol, Risperidon, Aripiprazol und Tiaprid sowie für Botulinumtoxin-Injektionen und die tiefe Hirnstimulation (Deep Brain Stimulation, DBS). Geringe Evidenz liege dagegen für die Neuroleptika Pimozid und Ziprasidon, den Dopamin-Antagonisten Metoclopramid, den Alpha-2-Agonisten Guanfacin, das Antiepileptikum Topiramat sowie für medizinisches Cannabis vor. Bei einer komorbiden ADHS sind laut Leitlinie Clonidin, Methylphenidat, eine Kombination aus beidem sowie Guanfacin wahrscheinlich geeignet, die Symptome der Tic-Störung und der ADHS zu reduzieren.
„Insgesamt kommt die Leitlinie hier zu etwas anderen Empfehlungen, als man sie in Deutschland und Europa geben würde“, sagt Roessner. „So gelten Clonidin und Guanfacin in den USA bei Tic-Störungen traditionell als Medikamente der ersten Wahl, während Tiapridex dort weitgehend unbekannt ist. In Deutschland und Europa werden dagegen fast nur atypische Neuroleptika in niedriger Dosierung verordnet. Dabei gilt Tiapridex als Medikament der ersten Wahl, gefolgt von Aripiprazol. Beide zeichnen sich durch ein günstigstes Nutzen-Nebenwirkungs-Verhältnis aus.“
Tatsächlich ist das einzige Medikament, das in Deutschland zur Behandlung des Tourette-Syndroms zugelassen ist, Haloperidol. „Wegen seiner zum Teil ausgeprägten Nebenwirkungen wird es in der Praxis jedoch kaum eingesetzt“, erläutert Roessner. „Stattdessen würde ich als Medikamente erster Wahl Tiapridex oder Aripiprazol im Off-Label-Use empfehlen. Dies basiert jedoch eher auf klinischen Erfahrungen als auf ausreichender Evidenz aus hochwertigen Studien.“
Weiterhin geht die Leitlinie auf einige eher seltene Behandlungsansätze ein, die vor allem bei schweren, chronischen Tics in Erwägung gezogen werden können. So könne bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen mit ausgeprägten Tics Botulinumtoxin eingesetzt werden, das in die an den Tics beteiligten Muskeln injiziert wird. Ärzte sollten die Betroffenen über diese Behandlungsmöglichkeit informieren, aber auch darauf hinweisen, dass die Effekte nur vorübergehend sind. „Aus meiner Sicht ist Botulinumtoxin vor allem bei chronischen, singulären Tics bei Erwachsenen sinnvoll“, sagt Roessner. „Das betrifft nur eine relativ kleine Zahl von Patienten.“
Zudem behandeln einige Patienten ihre Tics selbst mit Cannabis oder Marihuana und erleben dabei eine Besserung der Symptome. Die Evidenz für die Wirksamkeit von cannabisbasierten Wirkstoffen sei jedoch bisher gering, so die Leitlinie. Medizinisches Cannabis könne von einem erfahrenen Arzt verordnet werden, wenn die Patienten mit der Selbstmedikation positive Erfahrungen gemacht hätten und andere Behandlungsansätze nicht zu einer Besserung geführt hätten. Dabei müsse jeweils die regionale Gesetzgebung beachtet werden. Nicht verordnet werden sollte Cannabis bei Kindern und Jugendlichen, Schwangeren, stillenden Müttern und Patienten mit Psychosen. „Patienten, die Cannabis zur Selbstmedikation nehmen, sind oft Erwachsene mit schweren, chronischen Tics“, sagt Roessner dazu. „Aus meiner Sicht sollte ihnen zuerst ein anderes Medikament bzw. eine Medikamentenkombination verordnet werden, bei denen Wirkung und Nebenwirkungen klar bekannt sind. Haben Patienten mit Cannabis gute Erfahrungen zur Linderung der Tics gemacht, kann medizinisches Cannabis in Einzelfällen eine Option sein.“
Patienten mit schwerem Tourette-Syndrom, bei denen andere Maßnahmen keine Verbesserung erbracht haben, könnten laut Leitlinie möglicherweise von einer tiefen Hirnstimulation profitieren. Das Vorgehen sollte dabei aber engmaschig von einem Fachmann überwacht werden.
„Insgesamt ist es begrüßenswert, dass es nun eine sorgfältig ausgearbeitete Leitlinie für Tic-Störungen gibt, die alle bisher verfügbare Literatur berücksichtigt und nach den Qualitätsstandards der American Academy of Neurology verfasst ist. Sie kann eine gute Orientierungshilfe für die klinische Vorgehensweise sein“, sagt Kirsten Müller-Vahl, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie an der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).
Auch sie ist Koautorin der US-Leitlinie, sieht diese jedoch in einigen Punkten kritisch. „Häufig werden darin Empfehlungen ausgesprochen, obwohl die Datenlage dürftig ist und die Evidenz, etwa für ein bestimmtes Medikament, gering ist“, sagt die Expertin. „Außerdem ist eine Leitlinie immer ein Kompromiss zwischen allen Beteiligten, die einzelnen Empfehlungen werden durch Abstimmung erzielt. Das wirkt sich bei einer schlechten Datenlage deutlicher auf die Empfehlungen aus als bei einer guten Datenlage.“ Die Empfehlungen der US-Leitlinie seien letzten Endes ähnlich wie in bisherigen Leitlinien, so Müller-Vahl. „Das liegt auch daran, dass es in den letzten Jahren nicht viele neue Studien und Erkenntnisse zu Tic-Störungen gab.“
Ein Grund dafür ist nach Ansicht der Psychiaterin, dass der wirtschaftliche Profit der Arzneimittelindustrie bei solchen Studien gering ist. Studien an Universitäten wiederum seien teuer. „Tiaprid etwa ist schon seit 30 Jahren auf dem Markt und wird von den Krankenkassen bezahlt“, sagt Müller-Vahl. „Daher ist es schwierig, Geldgeber für neue Studien zu finden. Zudem haben die Patienten von solchen Studien keinen Vorteil, so dass auch Studienteilnehmer schwer zu finden sind.“
Derzeit wird auch in Deutschland unter Federführung von Veit Roessner eine neue Leitlinie für Tic-Störungen erarbeitet. Sie soll S3-Niveau haben und Ende August 2019 veröffentlicht werden. „Das methodische Vorgehen ist hier etwas anders, insgesamt wird sie aber zu ähnlichen Ergebnissen kommen wie die US-Leitlinie“, sagt Roessner. „Auch hier ist es zum Teil schwierig, zu rechtfertigen, warum wir eine bestimmte Empfehlung geben, obwohl es wenig wissenschaftliche Evidenz gibt und nur die klinische Erfahrung dafür spricht.“
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