Im letzten Jahr ist die Zahl an Abtreibungen angestiegen. Experten diskutieren, ob sich dahinter ein langfristiger Trend verbirgt. Sie suchen die Schuld bei verantwortungslosen Frauen und bei unfähigen Apothekern. Besser wäre, über Kontrazeptiva als Kassenleistung nachzudenken.
Neue Zahlen des Statistischen Bundesamts (Destatis) sorgen für reichlich Gesprächsstoff. Der Grund: Im Jahr 2017 wurden 101.200 Schwangerschaftsabbrüche gemeldet, das sind 2,5 Prozent mehr als im Vorjahr. 96 Prozent aller Abbrüche erfolgten der Beratungsregelung entsprechend innerhalb der ersten 12 Wochen. Medizinische und kriminologische Indikationen waren mit insgesamt 4 Prozent eher selten. Gynäkologen, Statistiker und Politiker nehmen diese Zahlen zum Anlass, einmal mehr über Ursachen von Abtreibungen generell zu debattieren.
„Es wäre wissenschaftlich unredlich, aus einer so kleinen Schwankung innerhalb eines so kurzen Zeitraums einen Trend abzuleiten und von einer Zunahme zu sprechen“, kommentiert Prof. Dr. Ulrike Busch von der Hochschule Merseburg bei spiegel.de. „Man muss unbedingt größere Zeiträume von etwa fünf bis zehn Jahren betrachten.“ Trägt man die Messwerte quartalsweise auf, zeigen sich starke Ausreißer nach oben und unten. Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland pro Quartal © Statista, Screenshot: DocCheck Im internationalen Vergleich ist die Zahl an Abtreibungen vergleichsweise niedrig. Gemessen an Regionen mit ähnlicher politischer und medizinischer Struktur befindet sich Deutschland unter den Ländern mit den wenigsten Schwangerschaftsabbrüchen. Je 1.000 Frauen wird die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche mit 6 pro Jahr angegeben. In der untenstehenden Grafik ist ein Auszug der EU-Staaten dargestellt (Deutschland wurde in der Abbildung leider nicht berücksichtigt). Schwangerschaftsabbrüche im weltweiten Vergleich. Ergänzung: Deutschland liegt bei 6,0 Patientinnen pro 1.000 Frauen. © guttmacher.org
Trotzdem wird das Thema heiß diskutiert. DocCheck hat deshalb ambulant bzw. stationär tätige Ärzte sowie die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) um Expertenkommentare zur Statistik gebeten – und nur Absagen erhalten. Eine Gynäkologin aus der Nähe von München, die selbst Schwangerschaftsabbrüche durchführt, will sich zumindest anonym äußern. Sie berichtet von „stetigen Schwankungen ohne erkennbaren Trend“. Allerdings behandelt sie zusammen mit Kollegen nicht ausreichend viele Patienten, um statistisch fundierte Aussagen zu treffen. „Ich befürchte, hier versuchen radikale Abtreibungsgegner, Frauenrechte aufgrund von Zahlen zu beschneiden“, so die Gynäkologin weiter. Außerdem spricht sie von einer „undurchsichtigen Position des Berufsverbands der Frauenärzte“. Durch dessen Äußerungen habe die „leidige Diskussion“ erst begonnen. „Mir ist nicht klar, ob es dem BVF eher um Patientinnen oder um wirtschaftliche Interessen von Gynäkologen geht“, sagt sie.
Zum Hintergrund: Seit Wochen lanciert der BVF Meldungen in Zusammenhang mit Abtreibung und Verhütung. BVF-Chef Dr. Christian Albring erklärt steigende Zahlen bei Schwangerschaftsabbrüchen unter anderem mit Schwächen bei der apothekerlichen Beratung zur „Pille danach“. Präparate mit den Wirkstoffen Levonorgestrel oder Ulipristalacetat wurden aus der Rezeptpflicht und damit aus der Hand von Gynäkologen entlassen. „Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Apotheker durch ihre eigene Standesorganisation ungenügend auf diese anspruchsvolle Beratung vorbereitet wurden und das zu einer Zunahme unerwünschter Schwangerschaften führen könnte“, so Albring. Sein Ansatz ist, dass Apotheker bei der Notfallkontrazeption schlechter als Gynäkologen beraten. Fehler führen zu ungewollten Schwangerschaften und ziehen Abbrüche nach sich. Seine These kann er nicht beweisen, wirbt aber offensiv für Notfallkontrazeptiva auf Kassenrezept inklusive gynäkologischer Beratung. Pharmazeuten hören das nicht gerne. Die Bundesapothekerkammer hat Handlungsempfehlungen für die rezeptfreie Abgabe von Notfallkontrazeptiva bereitgestellt und aktualisiert ihre Unterlagen regelmäßig. „Die Behauptung, dass Apotheker nicht zuverlässig zur Pille danach beraten würden, entbehrt jeder Grundlage“, kommentierte eine Sprecherin.
Außerdem vermutet Albring einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg von Schwangerschaftsabbrüchen und dem Zurückgang beim Verkauf hormoneller Verhütungsmittel mit besonderer Hinsicht auf die Antibabypille. Ein Beispiel: Felicitas R. hatte eine Lungenembolie erlitten. Sie hält Zusammenhänge mit ihrer Antibabypille für möglich und klagte deshalb gegen Bayer. Laut BVF hätten derartige Prozesse dazu geführt, dass der Verkauf hormoneller Verhütungsmittel seitdem um über 4 Prozent pro Jahr zurückgegangen ist. „Selbst, wenn 2 Prozent davon dem demographischen Wandel geschuldet sind, ist zu fragen, wie die Frauen, die keine hormonelle Antikonzeption mehr verwenden, heute ungewünschte Schwangerschaften verhindern“, ergänzt Albring. Er befürchtet, Frauen würden unsichere Alternativen bevorzugen und ungewollt schwanger werden. Als sichere Alternative nennt er die Kupferspirale. Einige Paare greifen auch auf die natürliche Familienplanung (NFP) zurück, diese berge Albring zufolge aber Risiken und sei relativ zeitaufwendig. Valide Quellen oder schlüssige Beweise für seine Thesen, wie es von einem Forscher eigentlich zu erwarten wäre, legt Albring nicht vor. Sollten die Zahlen stimmen, bleibt es epidemiologisch betrachtet immer noch bei einer Assoziation, aus der man so keine Kausalität ableiten kann. Wird Frauen die Kompetenz, sich selbst zu informieren, abgesprochen? Das vermutet zumindest die von DocCheck befragte Gynäkologin aus der Nähe von München. Auch aus dem Kollegenkreis habe sie nichts über einen signifikanten Trend weg von der „Pille“ gehört.
Doch selbst wenn der Abwärtstrend der Antibabypille mehr als eine Vermutung ist, hat Albrings Argumentation Schwächen. Sollten sich Frauen tatsächlich häufiger gegen die „Pille“ entscheiden, stehen ihnen noch andere Möglichkeiten der hormonfreien Verhütung zur Verfügung. Etwa bei der bereits erwähnten Kupferspirale müssen Patientinnen mit einem Kostenaufwand um die 300 Euro rechnen. Das ist nicht wenig Geld, aber bei näherer Betrachtung ist die Verhütungsmethode zumindest nicht teurer als die Antibabypille. Die verhütende Wirkung ist in der Regel fünf Jahre gewährleistet, das ergibt auf lange Sicht fünf Euro pro Monat. Außerdem bleibt noch das Kondom als Alternative für den Partner. Busch verweist auf Schwächen im V. Sozialgesetzbuch. Bis 2004 bekamen Frauen mit wenig Geld die Kosten für ihre Verhütung vom Sozialamt als Sonderleistung erstattet. Im Hartz-IV Regelsatz sind 17,59 Euro für „Gesundheitspflege“ vorgesehen. Shampoo, ASS, Tampons, Kontrazeptiva – dass man mit diesem Betrag unmöglich alle Bereiche, die in die Kategorie Gesundheitspflege hineinfallen, decken kann, ist offensichtlich. Allein die „Pille“ kostet rund 12 Euro pro Monat, und bei der „Spirale“ sind es einmalig rund 300 Euro für eine Zeitspanne von drei bis fünf Jahren. Eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bestätigt Zusammenhänge von ungewollten Schwangerschaften mit dem Einkommen. Minderjährige Schwangere, aber auch deren Eltern waren überproportional oft ohne reguläres Einkommen. Aktuell sind Präparate oder Produkte zur Verhütung keine GKV-Leistung. Die „Pille“ erhalten nur Frauen unter 21 Jahren auf Kassenrezept. „In Deutschland leben viele Frauen, die sehr wenig Geld zur Verfügung haben, etwa weil sie studieren oder Hartz IV bekommen“, sagt Busch. „Und die können sich die Pille oder andere teure Alternativen wie die Spirale oder gar Hormonspirale nicht leisten.“ Ende 2017 hat der Bundesrat eine Initiative gestartet, um allen Frauen kostenlose Verhütungsmittel anzubieten. Daran ist die Bundesregierung aber nicht gebunden.
In der bisherigen medialen Diskussion fehlt ein wichtiger Aspekt: Welche Möglichkeiten haben Frauen, sich objektiv über Abtreibungen zu informieren? Seit dem Urteil gegen Kristina Hänel sind von den Websites gynäkologischer Praxen viele Inhalte verschwunden. Die Ärztin hatte online über Schwangerschaftsabbrüche informiert. Sie wurde zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt, weil Richter einen Verstoß gegen Werbeverbote gemäß § 219a des Strafgesetzbuchs (StGB) witterten. Doch Hänel gibt sich nicht geschlagen. Mehr als 155.000 Bürgern unterstützen eine Petition für Informationsrechte und für eine Novellierung des umstrittenen Paragraphen. Kürzlich hat die Linkspartei Hänel mit ihrem Clara-Zetkin-Frauenpreis 2018 ausgezeichnet. Jetzt geraten Politiker unter Zugzwang. Sozialdemokraten befürworten eine Novellierung. Sie haben CDU und CSU eine Frist bis Herbst gesetzt. Ansonsten scheint die Bereitschaft da zu sein, andere Fraktionen zu integrieren. „Wenn die SPD die Streichung von § 219a auf die Tagesordnung setzt, wird eine Mehrheit dafür nicht an der FDP scheitern“, gab Marco Buschmann vor wenigen Tagen bekannt. Er ist Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion. Bahnt sich die erste Machtprobe an? Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bleibt hart. „Wir wollen, dass Frauen in einer schwierigen Konfliktsituation sich gut informieren können“, sagte er in Berlin „Dieses Ziel ist aus meiner Sicht umfänglich ohne eine Änderung des § 219a zu erreichen.“