Die Gicht sorgt für Probleme: Betroffene machen einiges falsch, Ärzte aber auch. Ein Beispiel: Nur etwa die Hälfte aller Patienten mit häufigen Gichtanfällen nimmt Allopurinol, zeigt eine australische Umfrage. Was schief läuft und welche Lösungen es gibt.
In Australien findet jedes Jahr die Australian Health Omnibus Survey statt: Mit etwa 3.000 Einwohnern ab 15 Jahren werden persönliche Interviews geführt, die repräsentative Daten der Bevölkerung liefern. Eines der Ergebnisse aus dem Vorjahr: Die Prävalenz von chronischer und akuter Gicht bei 6,5 Prozent lag (95 % CI 5,5-7,5). Dies ging aus den Interviews vom Jahr 2017 mit 2.778 Teilnehmern ab 25 Jahren errechneten Wissenschaftler der Universität Adelaide hervor.
Von den Betroffenen verwendeten 37,1 Prozent Allopurinol, und 23,2 Prozent hatten dies zuvor getan, was einer Abbruchrate von 38 Prozent entspricht. Ein Viertel der Personen hatte im Jahr vor der Umfrage mindestens zwei Gichtanfälle. Von ihnen verwendeten aber nur 51 Prozent Allopurinol. (Febuxostat, ein alternatives Medikament für die Senkung der Harnsäure zur Erstlinientherapie wurde in Australien erst 2015 zugelassen und deshalb nicht berücksichtigt.)
Die Autoren schlussfolgern aus ihren Ergebnissen: „Gicht bleibt trotz der leicht verfügbaren Behandlung eine verbreitete und schlecht behandelte Krankheit.“
Dass es sich um kein australisches Problem handelt, zeigte eine Befragung von 1.100 Gichtpatienten aus 14 EU-Ländern, darunter 165 Patienten aus Deutschland, deren Ergebnisse im Juni auf der Jahrestagung der EULAR (European League Against Rheumatism) in Madrid vorgestellt wurden: Bei einem Viertel der Befragten brauchte es vier oder mehr Gichtanfälle für die Diagnose. Rund die Hälfte der Patienten (58 %) erhielten Medikamente zur Senkung des Harnsäurespiegels, aber bei weniger als der Hälfte wurde der Harnsäurespiegel zwei oder mehrmals pro Jahr kontrolliert.
Dr. Horst Prautzsch, Facharzt für Allgemeinmedizin und Mitglied der ständigen Leitlinienkommission der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM), meint dazu: „Es gibt in der Tat viele Patienten, die ihre Harnsäuresenker nicht einnehmen. Das gilt auch für viele andere Therapien wie beispielsweise beim Bluthochdruck. Die Non-Compliance ist ein echtes Problem bzw. eine Realität, der man sich stellen muss.“
Obwohl ein Gichtanfall sehr schmerzhaft ist, suchen offenbar nicht alle Gichtgeplagten einen Arzt auf: Eine internetbasierte US-amerikanische Crossover-Fallstudie ergab, dass 53 Prozent der Teilnehmer während eines akuten Gichtanfalls keinen Arzt konsultiert hatten, und weitere 25 Prozent gingen bei Schüben nur hin und wieder zum Arzt. Dies lässt vermuten, dass die Betroffenen einen Großteil der Gichtanfälle selbst managen.
Das könnte daran liegen, dass viele Menschen glauben, Gicht sei allein durch eine schlechte Ernährung bedingt und könne durch eine entsprechende Diät rückgängig gemacht werden. Das ist aber nicht zutreffend, denn der Harnsäurespiegel hängt sowohl von der Eigenproduktion als auch von der Nahrungsaufnahme ab. Eine noch größere Rolle spielt in vielen Fällen die Ausscheidung über die Niere, die anlage- oder krankheitsbedingtbedingt reduziert sein kann. In solchen Fällen hilft keine Diät, die – auch wegen der häufig vorliegenden Komorbiditäten – zusammen mit einem reduzierten Alkoholkonsum trotzdem allgemein empfohlen wird.
Es gibt eine Reihe von Unwägbarkeiten bei der Gichttherapie: Die Mobilisierung von Harnsäure aus den Ablagerungen durch die Therapie kann neue Gichtanfälle hervorrufen, zudem kann die Auflösung von Tophi lange Zeit andauern, auch wenn der Zielwert (in der Regel < 6mg/dl bzw. 360 µmol) schon erreicht wurde. Deshalb wird die Dosis zu Beginn langsam erhöht, und es wird anfangs eine begleitende antiinflammatorische Therapie empfohlen, die aber nicht immer ausreichend wirksam ist. Das kann dazu führen, dass Patienten die Therapie als unwirksam empfinden. Damit das nicht passiert, muss ihnen das „Therapie-Paradoxon“ erklärt werden.
Ein weiterer Grund, weshalb Patienten die Behandlung abbrechen, ist, dass sie sich nicht im Klaren darüber sind, dass Gicht zwischen den Schüben „immer noch da“ ist: Sie fühlen sich besser und stoppen die Behandlung. Im umgekehrten Fall spielt Resignation eine Rolle, wenn Betroffene nicht (mehr) daran glauben, dass sie durch die Behandlung gichtfrei werden können: Sie halten die Gichtschübe für unveränderlich und müssen darüber aufgeklärt werden, dass ein Nutzen durch die Therapie erst nach einem Jahr zu erwarten ist. Und wer wegen mehrerer Komorbiditäten schon viele Tabletten nimmt, möchte vielleicht einfach nicht noch mehr.
In einer britischen Untersuchung wurde durch Befragungen von Gichtkranken, Ärzten und Pflegekräften ein allgemeiner Mangel an Wissen und Verständnis über die Ursachen und Folgen der Gicht sowohl bei den Patienten als auch bei den Fachkräften aufgedeckt. Dazu zählten negative stereotype Assoziationen, beispielsweise dass Gicht selbstverschuldet oder eine normale Alterserscheinung sei. Auch richteten viele ihre Aufmerksamkeit nur auf die akuten Schübe, anstatt die zugrunde liegende Ursache zu betrachten. Das mangelnde Wissen der Ärzte und Pflegekräfte über Gicht und die Managementrichtlinien führte zu einer Zurückhaltung bei der Harnsäure senkenden Therapie und spiegelte sich in suboptimalen Informationen wider, die an die Patienten weitergegeben wurden.
Aber so einfach ist die Sache auch nicht, denn es bestehen bei verschiedenen Fachgesellschaften durchaus unterschiedliche Ansichten über die richtige Herangehensweise. Während man in der Richtlinie der EULAR eine lebenslange Harnsäure senkende Therapie für erforderlich hält, wird in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) zur Gichtarthritis von einer heilbaren Erkrankung gesprochen, bei der die Dauertherapie nach fünf Jahren Beschwerdefreiheit und normalen Harnsäurewerten ggf. ausgesetzt werden kann (bzw. fünf Jahre nach Auflösen aller Tophi). Die amerikanischen Internisten gehen noch wesentlich weiter: Im Gegensatz zu den Empfehlungen der EULAR und des American College of Rheumatology spricht man sich in der Richtlinie des American College of Physicians (ACP) bei Patienten mit seltenen Schüben gegen starre Zielwerte und eine Harnsäure senkende Therapie aus, mit der Begründung, dass die Wirksamkeit einer Dauertherapie allein auf physiologischen Überlegungen und Beobachtungsstudien beruhe.
Dieser Meinung schließen sich die Autoren und die ständige Leitlinienkommission der DEGAM an, die gerade die Leitlinie für die primäre Versorgung der chronischen Gicht und häufiger Gichtanfälle auf S2e-Niveau aktualisiert hat, die in einigen Wochen verfügbar sein wird. Prautzsch, der auch schon an den ersten Leitlinien der DEGAM zur Gicht beteiligt war, erläutert: „Durch die rein pathophysiologisch begründeten Therapien laufen wir Gefahr, Patienten zu schaden. Tatsächlich wissen wir sehr wenig über die Langzeitsicherheit von Harnsäuresenkern, denn es fehlen Endpunktstudien. Ich sehe bei der Gicht genau das gleiche wie beim Diabetes Mellitus Typ 2: In dem wir das HbA1c aus pathophysiologischen Überlegungen mit mehreren Medikamenten unter sieben gedrückt haben, haben wir die Sterblichkeit der Patienten erhöht. Bei der Gicht ist es ähnlich, mit Febuxostat senken wir die Harnsäure und bringen damit nach White 2018 binnen 32 Monaten einen von 156 Patienten um. Deshalb haben wir von der DEGAM die Leitlinie der ACP zu großen Teilen übernommen.“ Rheumatologen halten die Senkung der Harnsäure auf konkrete Zielwerte hingegen nach wie vor für sehr wichtig, was Kritiker zum Teil auf Interessenskonflikte zurückführen.
Wovon seltener gesprochen wird, ist eine Überversorgung. Laut Verordnungsspiegel der KV Baden-Württemberg wurden 2015 etwas mehr als drei Prozent der Bevölkerung mit Allopurinol behandelt –weitere Harnsäuresenker waren noch nicht einmal mit einbezogen. Die Prävalenz in Deutschland lag laut Annemans 2007 bei 1,4 Prozent. Selbst wenn die Prävalenz bis 2015 leicht angestiegen sein sollte, ergäbe das extrapoliert auf ganz Deutschland deutlich mehr als eine Million Menschen, die unnötigerweise Medikamente einnehmen. Prautzsch erläutert: „Viele Menschen bekommen nach Harnsäuresenker verschrieben, weil bei Routineuntersuchungen ein zu hoher Harnsäure-Wert festgestellt wurde, obwohl keine Symptome vorliegen. Das führt zu einer erheblichen Ressourcen-Fehlleitung, die durch die Fixierung auf einen Zielwert entsteht: Unnötige Diagnosen, unnötige Ängste, unnötige Therapien.“
„Wir Hausärzte können Gichtpatienten das Leben retten, indem wir wenige Dinge ändern“, sagt Prautzsch. Er fasst zusammen:
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