Wegen Leberschäden und Todesfällen steht Iberogast® schon lange in der Kritik. Was fehlt, ist eine nüchterne Einschätzung. Was sind die Vor- und Nachteile des Magenmittels? Ein Kommentar.
Stern, Spiegel, Zeit, Bild, Focus – die Liste der namhaften Zeitungen und Zeitschriften ließe sich beliebig verlängern. Alle haben über das Magenmittel und mögliche Leberschäden berichtet und vor Todesfällen gewarnt. Leberkiller oder Magenschmeichler, das ist hier die Frage. Um gleich zu Beginn einer Vorverurteilung entgegenzuwirken: Der Autor dieses Kommentars erhielt oder erhält kein Honorar oder ähnliches der Herstellerfirma von Iberogast® (Bayer AG). Eine Meinungsbildung ist hier eine äußerst schwierige Angelegenheit. Auf der einen Seite steht der Patient, auf der anderen der Verbraucherschutz und dann gibt es noch eine dritte Seite, nämlich der Hersteller des Arzneimittels. Jeder hat eigene Interessen und die sind nicht immer im Konsens vereinbar.
Warum die Debatte rund um Iberogast® so speziell ist, mag mit dem Sonderstatus des Mittels zu tun haben. Auf dem Markt befinden sich Tausende Phytopharmaka. Nur wenige haben ein Alleinstellungsmerkmal, nur wenige werden in den Leitlinien positiv erwähnt und noch weniger sind durch chemisch-definierte Arzneimittel zu ersetzen. Und um so eine Ausnahme handelt es sich beim Magenmittel.
Seit fast 60 Jahren ist das „Multi-Target-Arzneimittel“ auf dem Markt. Es moduliert die Magenmotilität, wirkt antientzündlich, spasmolytisch und reduziert die Bildung von Magensäure. Laut Herstellerangabe wurden seit Markteinführung mehr als 80 Millionen Patienten in über 40 Ländern behandelt. Das Präparat ist in Deutschland das einzige vom BfArM für Reizmagen und Reizdarm zugelassene Arzneimittel.
Seit berechtigter kritischer Sichtweise auf Metoclopramid und dem Rückruf von Cisaprid gibt es im Bereich der Prokinetika kaum Alternativen. Die Datenlage zum „betagten“ Domperidon ist begrenzt. Auch die Gruppe der Antiemetika mit Dimenhydrinat mit seiner engen therapeutischen Breite und den Setronen mit seiner engen Indikation ist nicht durch Vielfalt gekennzeichnet. In der Tat existiert weder ein chemisch-definiertes Arzneimittel, noch ein Phytopharmakon mit dem Spektrum von Iberogast®. In die S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom hat es nur dieses eine Phytopharmakon geschafft, positiv erwähnt zu werden. Klingt wie Werbung, ist aber Tatsache.
Die Tinktur besteht aus Angelikawurzel, Kamillenblüten, Kümmelfrüchten, Mariendistelblüten, Melissenblättern, Schöllkraut, Süßholzwurzel und Bitterer Schleifenblume. Alle Empfehlungen und Studien beziehen sich auf exakt diese Kombination. Würde der Hersteller einen Pflanzenextrakt weglassen, hinzufügen oder eine Menge verändern, dürfte er keine der zahlreichen Studien und Anwendungsbeobachtungen erwähnen. Aus dieser Grundlage heraus ist die Entscheidung der Herstellerfirma verständlich, die Zusammensetzung nicht zu verändern. Eine der Hauptkomponenten ist sicherlich die Bittere Schleifenblume.
Serotonin spielt eine Rolle bei der neuronalen Steuerung der gastrointestinalen Funktionen und beeinflusst Vorgänge und Reaktionen wie Übelkeit, Erbrechen, intestinale Schleimsekretion, Sensibilität und Motilität der Magen-Darm-Muskulatur. Iberogast bindet an den Serotonin- und muskarinergen M3-Rezeptoren an. Der Inhaltsstoff, der für die potenzielle Lebertoxizität verantwortlich gemacht wird, ist Schöllkraut. Eine Übersicht von Abdel-Aziz, ein Mitarbeiter der Firma Steigerwald, beschreibt ausführlich die Wirkungen von Schöllkraut und der anderen Inhaltsstoffe.
Aufgrund der Lebertoxizität von Schöllkraut wurden bereits 2008 allen Phytopharmaka mit einer Tagesdosis von mehr als 2,5 mg Gesamtalkaloiden die Zulassung entzogen. Alle Präparate mit einer niedrigeren Tages-Gesamtdosis mussten in die Patienteninformation Warnhinweise zur Lebertoxizität aufnehmen. Im September 2018 hat das BfArM ein Risikobewertungsverfahren gegen schöllkrauthaltige Produkte eingeleitet. Produkte mit 2,5 mg Schöllkrautextrakt pro Tagesdosis erhalten keine Zulassung mehr.
Laut BfArM sollen 48 Einzelfallberichte über Verdachtsfälle von Nebenwirkungen in der Organsystemklasse „Leber- und Galleerkrankungen“ vorgelegen haben. Diese Hinweise waren alle wirkstoff- und nicht produktbezogen. Heißt konkret: Die Hinweise bezogen sich ausschließlich auf die Einnahme von Schöllkraut und nicht auf die Einnahme von Iberogast®, das mehrere Pflanzenextrakte enthält.
Mit einer Menge von 0,3 Milligramm Gesamtalkaloide pro Tagesdosis enthält Iberogast® vergleichsweise wenig Schöllkraut-Extrakt. In die Gebrauchsinformation wurde folgender Hinweis aufgenommen:
„Iberogast® darf nicht eingenommen werden: Wenn Sie an Lebererkrankungen leiden oder in der Vorgeschichte litten oder wenn Sie gleichzeitig Arzneimittel mit leberschädigenden Eigenschaften anwenden.
Besondere Vorsicht bei der Einnahme von Iberogast® ist erforderlich: Wenn Zeichen einer Leberschädigung (Gelbfärbung der Haut oder Augen, dunkler Urin, entfärbter Stuhl, Schmerzen im Oberbauch, Übelkeit, Appetitverlust, Müdigkeit) auftreten, sollten Sie die Einnahme von Iberogast® sofort beenden und einen Arzt aufsuchen.“
Bayer, das Iberogast® seit der Übernahme von Steigerwald 2013 vermarktet, hat sich bis September 2018 geweigert, diese Hinweise in die Gebrauchsinformation aufzunehmen. Aufgrund neuer Fallberichte von Leberschäden hat Bayer mittlerweile die oben genannten Informationen in die Gebrauchsinformation aufgenommen, um einer Anordnung des Sofortvollzugs durch das BfArM zuvorzukommen.
Hier ist Kritik absolut berechtigt, nicht nur an der Firma Bayer sondern auch am BfArM. Beide Protagonisten haben zu retardiert reagiert. Die Behörde, weil sie Angst hatte wegen mangelhafter Datenlage zu unterliegen und der Hersteller wegen Angst vor Umsatzeinbußen oder Aktieneinbrüchen. Iberogast ® ist ein millionenschwerer Blockbuster. Hier ist auch die Kritik der Verbraucherschützer gerechtfertigt. Warum hat Bayer nicht schon früher die Patienten davor gewarnt, dass bei Leberschäden eine Anwendung unterbleiben sollte? Auch vor der gemeinsamen Einnahme von Iberogast ® mit anderen lebertoxischen Pharmaka wie Paracetamol müssten Warnungen ausgesprochen werden.
Schöllkraut einfach weglassen?
Eine Studie von König et al. untersuchte, ob eine Tinktur von Iberis amara vergleichende Wirkungen wie das Pflanzengemisch hat, was nicht bestätigt wurde. Auch hier wird klar, ohne Schöllkraut wäre das Magenmittel „nicht komplett“.
„Für die Einführung einer Version ohne Schöllkraut bestehe „keine Veranlassung“, so der Hersteller. Denn die Inhaltsstoffe des Schöllkrautes können die Magenmotilität steigern. Dieser Effekt wurde im unteren Magenbereich, dem sogenannten Antrum, beschrieben. Eine Motilitätssteigerung im Antrum kann den Weitertransport der Nahrung in den Dünndarm fördern. Schöllkrautextrakt spielt hier neben Iberis amara die tragende Rolle. Außerdem würden Schöllkraut beruhigende und krampflösende Eigenschaften auf den allgemeinen Verdauungstrakt zugeschrieben. Auszüge – wie in Iberogast – könnten gar „entzündliche Vorgänge reduzieren, indem sie freie Radikale abwehren“.
Etwa fünf Verdachtsmeldungen über Schöllkraut pro Jahr, 1–2 Todesfälle ohne bestätigten kausalen Zusammenhang zu Iberogast® in den letzten knapp 60 Jahren. Natürlich muss jedes Risikosignal ernst genommen werden und jeder Todesfall ist extrem tragisch und einer zuviel. Aber pro Jahr versterben alleine in Großbritannien 3.000 (!) Menschen an Blutungskomplikationen durch Acetylsalicylsäure, so ein Ergebnis der Oxford Vascular Study.
Natürlich werden weitaus mehr Leben durch verhinderte cerebrale und kardiale Ereignisse gerettet. Richtig eingesetzt ist ASS in der Reinfarktprophylaxe und nicht in der Primärprävention ein wichtiges Arzneimittel. Keiner würde hier auf die Idee kommen, eine Marktrücknahme zu verlangen.
Tausende Todesfälle gehen nach einer Studie von Xie et al. auf das Konto von Protonenpumpenhemmern. Dies gilt auch für die Dosierung, die in Apotheken ohne Rezept erworben werden können. Forderungen nach Rücknahme? Fehlanzeige. Es existieren zahlreiche weitere Beispiele. Bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz erhöht Digoxin das Sterberisiko um 14 Prozent (Hazard Ratio 1,14; 1,06–1,22). Die Gesamtanalyse aller Studien ergab einen Anstieg der Mortalität um 21 Prozent (Hazard Ratio 1,21; 1,07–1,38). Dies ergab eine Studie von Vamos und Hohnloser et al.
Was ist für Arzt und Apotheker wichtig? Der Patient sollte darüber informiert werden, unter der Einnahme vdes Magenmittels keine potenziell lebertoxischen Pharmaka wie Paracetamol einzunehmen. Für Schwangere ist die Anwendung Tabu. Ärzte und Apotheker sollten vor einer Verschreibung/Empfehlung bei dem Patienten Lebervorerkrankungen abklären.
Auch im Rahmen der Selbstmedikation sollte sich der Verbraucher von seinem Arzt und Apotheker beraten lassen. Wenn ein Arzneimittel „pflanzlich“ ist, suggeriert dies nicht selten auch, es sei „nebenwirkungsfrei“. Das ist ein Trugschluss. Alles was wirkt, kann auch unerwünschte Nebenwirkungen haben. Bei der Einnahme jedes Arzneimittels muss stets eine Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen, dies gilt auch für Iberogast®. Pharmapopulismus verunsichert den Verbraucher. Von sachlicher Aufklärung profitiert er weitaus mehr.
Der Autor ist Medizinjournalist (DJV), Fachdozent für Pharmakologie und Lehrbeauftragter an Ostfalia University of Applied Sciences.
Die Redaktion möchte gerne wissen: Wie steht ihr zum Einsatz des Magenmittels? Wir sind gespannt auf das Ergebnis unserer Umfrage auf Twitter und auf das Feedback in den Kommentaren oder per Mail an feedback_news@doccheck.com.
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