Im aktuellen „Diskussionsentwurf“ zur Notfallreform plant das Bundesgesundheitsministerium (BMG), den Sicherstellungsauftrag zu den sprechstundenfreien Zeiten von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) an die Länder zu übertragen. Die Idee birgt Sprengstoff für die niedergelassenen Ärzte. Aber auch für die ärztliche Versorgung der Patienten außerhalb der Sprechstundenzeiten.
Seit 1931 sind Deutschlands Praxisärzte dafür zuständig, dass gesetzliche Versicherte ambulant medizinisch versorgt werden – sowohl während der Sprechstundenzeiten als auch davor bzw. danach. Seit fast 90 Jahren können sich Patienten also immer darauf verlassen, dass sie in dringenden, aber nicht lebensbedrohlichen Fällen auch nachts und am Wochenende einen niedergelassenen Arzt finden. Das System wird immer weiter ausgebaut, etwa mit der bundesweiten Rufnummer für den Bereitschaftsdienst 116 117.
Doch das könnte bald alles der Vergangenheit angehören. Denn im Zuge der Notfallreform denkt Gesundheitsminister Spahn darüber nach, den Sicherstellungsauftrag auf die Länder zu übertragen. Das käme einem Dominoeffekt gleich, der die gesamte ambulante Versorgung durcheinanderwirbeln könnte.
Über 170.000 Vertragsärzte und -psychotherapeuten wären nur noch während der normalen Praxisöffnungszeiten von 8 bis 18 Uhr für die Versorgung zuständig. Bislang werden sie von ihrer jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung zusätzlich zum Bereitschaftsdienst verpflichtet. Wenn die KV keinen Sicherstellungsauftrag mehr hat, fällt auch diese Pflicht weg. Viele Vertragsärzte würde das sicherlich freuen – endlich keine Wochenend- und Feiertagsdienste mehr und endlich wieder Zeit für die Familie.
Die Länder müssten eigene Ärzte beschäftigen, um die Lücke zu füllen. Aus der Vertragsärzteschaft wären dazu sicherlich nur wenige bereit, und wenn, dann zu einem deutlich höheren Honorar als bislang. Aber wer soll das bezahlen? Die Länder müssten außerdem mit den Krankenkassen entsprechende Verträge zur Versorgung abschließen. Und natürlich wären sie den Krankenkassen dann auch Rechenschaft über das Abrechnungsverhalten der vom Land angestellten Ärzte schuldig.
Somit würde ein vollkommen eigenständiges System etabliert. Es entstünde ein weiterer eigenständiger Versorgungssektor – ein Anachronismus angesichts der jahrelangen Forderung, dass die Sektorengrenzen endlich überwunden werden müssen. Eine weitere Folge: Vertragsärzte könnten Versicherte in den sprechstundenfreien Zeiten nicht mehr behandeln, ohne mit diesem – nun getrennten – System in Konflikt zu kommen. Die Praxen wären also gezwungen, spätestens um 18 Uhr zu schließen. Dabei sollte das vor kurzem in Kraft getretene Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) doch gerade das Gegenteil bewirken. Ein spahnscher Schildbürgerstreich?
Natürlich hätten die Kassenärztlichen Vereinigungen dann auch kein Interesse mehr daran, eine Rund-um-die-Uhr-Rufnummer für den Bereitschaftsdienst zu betreiben. Die 116 117 würde also nur noch für die Terminservicestelle genutzt werden. Alle aktuellen Entwicklungen, die Notrufnummer 112 mit der Bereitschaftsdienstnummer 116 117 zu verknüpfen und die Terminservicestelle zu integrieren – sie wären mit einem Federstrich dahin.
Auch für die integrierten Notfallzentren (INZ) müsste ein neues Konzept her. Die KVen könnten weder die niedergelassenen Ärzte für den Betrieb der INZ organisieren, noch gäbe es einen Grund, warum sie sich finanziell an den INZ beteiligen sollten.
Die Länder wiederum müssten das gesamte Regelwerk des Bereitschaftsdienstes neu erstellen. Im schlechtesten Fall hieße das: 16 eigenständige Regelungen und Bürokratie pur. Und dafür auch noch Ärzte finden, während Praxen und Kliniken, aber auch der öffentliche Gesundheitsdienst händeringend nach Ärzten suchen.
Zwar könnten sie mit weiteren 16 Landesgesetzen die Ärzteschaft einfach zwangsverpflichten. Das aber wäre der endgültige Schlag gegen die Selbstverwaltung und ein Verstoß gegen die grundgesetzlich geschützte Freiheit der Berufsausübung. In ganz Deutschland käme es zu massiven Streiks, die das Ausmaß der Ärzteproteste 2012 weit in den Schatten stellen würden.
Angenommen, das alles ist nicht mehr als ein juristischer Kniff. Die Länder erhalten zwar per Gesetz den Sicherstellungsauftrag, übertragen diesen aber sofort weiter auf die KVen. Dann würde sich doch nichts ändern, oder?
Falsch. Denn die Länder dürfen zwar Aufgaben an Landesbehörden und -körperschaften geben, aber nicht an Körperschaften des Bundes. Das besagt die Normenhierarchie. Die KBV und der GKV-Spitzenverband könnten also keine Aufgaben im Bereich der Sicherstellung mehr übernehmen.
Den Sicherstellungsauftrag von den KVen an die Länder zu übertragen, wirft so viele Fragezeichen auf und sorgt für so viele Risse im Versorgungssystem, dass man sich fragen muss: Wofür das alles? Werden die Patienten dadurch etwa besser versorgt, wird die ambulante Versorgung hochwertiger, schneller und günstiger?
Eine systematische Weiterentwicklung statt chaotischer Rund-um-Erneuerung wäre im Sinne der Patienten, Ärzte und Praxisteams sehr viel sinnvoller. Und so kann sie funktionieren:
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