Viele der menschlichen Hirnzellen sind noch nicht erforscht, gleiches gilt für deren Funktion. Kombiniert man die klassischen Methoden zur Zellidentifizierung unter dem Mikroskop mit dem sogenannten „single-cell RNA sequencing“, gelingt es, jeden Baustein der Zelle zu erkennen.
Bisher konnte man Nervenzellen des Gehirns nur aufgrund einer wissenschaftlichen Prämisse identifizieren und deren Funktion bestimmen bzw. danach „suchen“ – auf Basis der Morphologie, Biochemie und aufgrund der Fragestellung, mit wem die Zelle korrespondiert und kommuniziert. „Das hat die Analyse neuer Arten von Neuronen, für die wir keine anatomischen, biochemischen oder elektrophysiologischen Marker kennen, behindert. Daher braucht die Neurowissenschaft radikal neue Ansätze, um die Identität aller Neuronen und anderer Zelltypen zu erfassen“, erklärt Studienleiter Tibor Harkany, Leiter der Abteilung für Molekulare Neurowissenschaften der MedUni Wien. „Jede neue Methode, die uns hilft, ein besseres Verständnis des Gehirns und seiner Zellkomponenten zu erhalten, wird unmittelbar relevant für die Erforschung neuer Therapien zur Behandlung von neuropsychiatrischen und altersbedingten Krankheiten sein", so Harkany. Mit der neuen Technologie, die in Kooperation von MedUni Wien und dem Karolinska Institut erstmals weltweit kombiniert eingesetzt wurde, ist es nun möglich, jede Zelle ohne jedes Vorwissen zu durchleuchten und deren Bestandteile exakt aufzulisten – und gleichzeitig auch ihre Aktivität und Funktion in den einzelnen Gehirn-Arealen aufzuzeigen.
„Damit wird es uns gelingen, einen Katalog der mRNA-Moleküle in den Neuronen anzulegen, mit dem wir zum Beispiel verschiedene Subtypen der Neuronen differenzieren können, gesunde und kranke Zellen oder junge mit alte Neuronen miteinander vergleichen können. Diese Technologie ist ein revolutionärer Durchbruch, weil es damit möglich wird, die molekulare Basis für die gesamte neuronale Identität zu erfassen“, sagt Harkany. „Es war eine enorme Herausforderung, die technischen Schwierigkeiten zu überwinden, vor allem, um RNA in einem Zustand untersuchen zu können, damit quantitativ und qualitativ hochwertige und reproduzierbare Analysen möglich sind“, ergänzt János Fuzik, Erstautor der Studie. Zugleich wird es möglich sein, zu kategorisieren, welche Zellen miteinander verwandt sind, welche ähnlich funktionieren, wodurch sie sich grundsätzlich unterscheiden und besser ihre Funktion und Aktivität vorherzusagen.
Harkany: „Wir können dann einen Familienstammbaum der Zellen anlegen und besser verstehen, welchen spezifischen Beitrag die einzelnen Nervenzellen in ihre Netzwerken zum Beispiel während der Verarbeitung von emotionalen oder Lern-Prozessen oder bei der Gedächtnisbildung leisten.“ Zum Beispiel wurden in den ersten Ergebnissen der Studie fünf Subtypen einer Nervenzelle entdeckt, deren Erforschung aufgrund ihrer Vielfältigkeit bisher unmöglich schien. Ein weiteres großes Potenzial der Studie ist es, dass auch andere Typen von Gehirnzellen, etwa Astrozyten oder Mikroglia detaillierter als bisher analysiert werden können. Für die Forschung und die klinische Praxis eröffnet der erfolgreiche Einsatz der neuen Technologie neue Perspektiven: Die Ansatzpunkte für neue Wirkstoffe könnten rascher identifiziert werden, womit die Entwicklung von Medikamenten angekurbelt wird, zugleich ist die neue Methode auch bei der Zellidentifizierung und –analyse bei Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse und des Herzens, oder auch in Gehirntumoren einsetzbar. „Wir können damit genau und relativ rasch erkennen, welche Zelle nicht richtig arbeitet oder beschädigt ist und was in der Zelle falsch läuft“, sagen die Hirnforscher. Originalpublikation: Integration of electrophysiological recordings with single-cell RNA-seq data identifies neuronal subtypes János Fuzik et al.; Nature Biotechnology, doi: 10.1038/nbt.3443; 2015