Das hochpotente Analgetikum Fentanyl hat den US-amerikanischen Drogenmarkt aufgemischt. Seit Monaten taucht das synthetische Opioid in den Schlagzeilen auf, weil es in tausende Todesfälle involviert ist. Wie kam es dazu?
Die Zukunft von Fentanyl und anderen synthetischen Opioiden – so lautet der Titel des umfassendsten Berichts, den es zu dem Thema je gab. Es geht um den gefährlichen Weg der Substanz Fentanyl von der Medizin in die Drogenszene.
Die Zahl der mit Opioiden in Verbindung stehenden Todesfälle aufgrund einer Überdosis in den USA belaufen sich für das Jahr 2018 auf etwa 50.000 Menschen, schreiben die Autoren dieses Berichts. Diese Zahl an Todesfällen ist zu vergleichen mit jenen durch HIV/AIDS verursachten im Jahr 1995, als die Ausbreitung der Krankheit ihren Höhepunkt erreicht hatte. Heroin oder semisynthetische Substanzen sowie natürliche Opioide gehören zu jenen Drogen, für die in den letzten Jahren ein Rückgang verzeichnet werden konnte. Der Siegeszug synthetischer Opioide ist hingegen nicht aufzuhalten.
Die Ausgangsfragen der Forscher: Welche Rolle spielen Fentanyl und andere synthetische Opioide in den USA und wie ist die Situation in Europa? Was macht die Droge so gefährlich und wie kann man ihre Verbreitung aufhalten?
Es handelt sich um ein riesiges Analyse- und Rechercheprojekt. Der US-amerikanische Wissenschaftler Bryce Pardo und seine Kollegen haben unzählige Berichte und Studien zu diesem Thema zusammengetragen und ausgewertet. Um Wissenslücken zu ergänzen, führten sie ausführliche Interviews mit Experten aus den Bereichen Drogenpolitik, Suchtberatung, medizinische Versorgung, Gesundheitswesen, Polizei und Strafjustiz.
Weil die synthetischen Opioide sich dermaßen schnell ausbreiten konnten, sprechen die Autoren von einer Epidemiewelle. Obwohl es viele unterschiedliche synthetische Opioide auf dem Markt gibt, stehen die meisten Überdosis-Fälle im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Fentanyl, wie Hedegaard et al. und Spencer et al. herausfanden. Die vom Staat beschlagnahmten Funde, die Fentanyl enthalten, mehren sich deutlich: Waren es laut U.S. Drug Enforcement Administration im Jahr 2013 keine 1.000, stieg die Zahl im Jahr 2017 auf über 59.000 Funde.
Im Report vergleichen die Autoren die Anzahl von Fentanyl-Opfern in unterschiedlichen Gebieten der USA. Dabei wurde zum Beispiel deutlich, dass es vor allem in Ohio bereits viele Todesfälle gibt, die aus einer Überdosis von Carfentanyl resultieren. Dies ist eine der gefährlichsten Substanzen, die es momentan auf dem Drogenmarkt gibt: Carfentanyl ist die noch potentere Variante des Fentanyls und kommt ursprünglich aus der Veterinärmedizin und wird zur Betäubung von Großtieren wie Löwen oder Bären eingesetzt.
Fentanyl hat eine Potenz, die 50 bis 100 Mal so stark sein kann wie Morphin. Das Analogon Carfentanyl soll bis zu 10.000 Mal so potent sein können wie Morphin. (Suzuki und El-Haddad, 2017). Auch unser Blogger Narkosedoc berichtete bereits über Fentanyl und seine Derivate.
Fentanyl, Quelle: Harbin, Wikimedia Commons
Den Ursprung sehen die Autoren in den 1970ern. Fentanyl wurde in den USA im Jahr 1972 als Anästhetikum zugelassen. Was den Missbrauch des Medikaments angeht, handelte es sich aber um kurzlebige Trends. Angesichts der Tatsache, dass Fentanyl billiger und potenter als Heroin ist, gab es schon früh Prognosen von Experten, dass die Droge schnell Heroin in Sachen Beliebtheit überholen würde. Tatsächlich passiert ist das aber erst vor kurzem. Die Frage ist, warum.
Einer der Gründe, warum man auf dem Drogenmarkt auf synthetische Opioide aufmerksam wurde, waren vorübergehende Heroinengpässe, die es notwendig machten, auf Alternativen auszuweichen. Auch der Preis spielte wohl eine Rolle, schließlich ist Fentanyl deutlich billiger als Heroin. Das Bekanntmachen und in Umlaufbringen der Droge ist durch die mittlerweile alltägliche Kommunikation via Internet so leicht wie nie zuvor.
Der Siegeszug von synthetischen Opioiden lässt sich leider gut anhand der Todesfälle nachvollziehen, die aus Drogenmissbrauch resultieren. Zwischen den Jahren 2013 und 2017 stieg die Zahl an überdosisbedingten Sterbeeinträgen von 1 pro 100.000 Menschen auf 9 pro 100.000. Das entspricht in etwa einer doppelt so hohen Rate wie für Heroin (4,9 pro 100.000 im Jahr 2017) oder verschreibungspflichtigen Opioiden (4,4 pro 100.000). Ab dem Jahr 2015 übertraf die Zahl der überdosisbedingten Todesfälle durch Heroin oder synthetische Opioide jene Todesfälle durch verschreibungspflichte Opioide.
Wie sehr die Beliebtheit einer Droge steigt, lässt sich außerdem anhand beschlagnahmter Kilogrammzahlen einschätzen: Den Daten der US Customs and Border Protection (CBP) zufolge steigt die Menge der Sicherstellungen von Fentanyl extrem an. Belief sich die Menge im Jahr 2015 auf 32 Kilogramm, verzehnfachte sich der Wert im Jahr 2016 auf 271 Kilogramm und stieg nochmal um das Dreifache im Jahr 2017 (852 Kilogramm). Im Vorjahr waren 811 Kilogramm und der letzte Stand bezieht sich auf Februar 2019 mit 322 Kilogramm.
„Die derzeitige Welle an Überdosen ist großteils auf illegal hergestelltes Fentanyl zurückzuführen“, heißt es im Bericht. Dem Office of National Drug Control Policy zufolge gelangen die synthetischen Opioide direkt von chinesischen Herstellern via Post, Privatkurierdiensten oder Schmugglern über Mexiko oder Kanada in die USA.
Dem National Forensic Laboratory Information System (NFLIS) liegen die Zahlen gemeldeter Substanzen der letzten Jahre vor. Die Autoren des umfassenden Fentanylberichts wollten sich einen Überblick verschaffen. Im Zeitraum zwischen 2007 und 2017 teilen sich die erfassten Sicherstellungen so auf:
Dass ausgerechnet Fentanyl und Derivate dieser Substanz so einen plötzlichen Aufstieg auf dem Drogenmarkt erfahren haben, führen die Autoren auf eine Reihe möglicher Faktoren zurück.
So führt die problemlose Verbreitung einfacherer und effizienterer Synthesemethoden zu einem Trend weg von Chemikern hin zu Köchen, die ohne chemisches Fachwissen nach Anleitung herstellen.
Ein weiterer Faktor: Die Entwicklung von Analoga bzw. Derivaten der Grundsubstanz verschafft Herstellern Zeit. Denn die Behörden haben sie zu Beginn noch nicht „auf dem Schirm“, weil sie ja streng genommen noch nicht verboten sind, wie Reuter und Pardo in ihrer Arbeit erläutern. Aus diesem Grund wurde im Jahr 2018 eine allgemeine Kontrolle für die ganze Familie der Fentanylchemikalien eingeführt. Auf die Anfrage der USA hin hat auch China eine solche allgemeine Kontrolle übernommen. Ob diese Maßnahme sich als erfolgreich erweisen wird, muss sich noch zeigen.
Ein besonders großes Problem sehen die Autoren bei Intermediaten, also Zwischenprodukten, die nicht oder nicht gut genug kontrolliert werden. Die chemischen Verbindungen NPP und 4-ANPP zum Beispiel sind Inermediate von Fentanyl.
Erst ab dem Jahr 2017 wurden sie auf den United Nations drug control conventions thematisiert und im Report des International Narcotics Control Board (INCB) berücksichtigt. Davor gab es keinerlei Einschränkungen bei der Herstellung sowie beim Import oder Export dieser Chemikalien. Gerade in China scheinen nötige Maßnahmen nicht durchgesetzt zu werden, um die massive pharmazeutische und chemische Industrie zu überschauen und zu regulieren.
Das Verhältnis zwischen Potenz und Gewicht macht Fentanyl zur idealen Droge für Schmuggler. Kleine Mengen können einfach auf traditionellem Weg von einem Ort zum anderen befördert werden, in einem Fahrzeug oder versteckt im oder am Körper einer Person. Eine winzige Portion kann per Post an jemanden verschickt werden, der die Menge auf dem lokalen Drogenmarkt verteilt. Zum Vergleich: Eine Unze, also etwa 28 Gramm Fentanyl können ein Kilogramm Heroin ersetzen.
Eine neue Entwicklung hat den Autoren zufolge beim Internet- und Pakethandel zwischen den USA und China stattgefunden. In Hinblick auf das Volumen von Post, die von China in die USA geliefert wird, konnte seit dem Fentanyl-Boom ein Anstieg verzeichnet werden. Außerdem hat seitdem die Verwendung von Kryptowährung und anonymer Software wie z.B. The Onion Router (ein Netzwerk zur Anonymisierung von Verbindungsdaten) zwischen den Staaten zugenommen.
Das war der erste Teil der Fentanyl-Saga. Die beiden anderen Teile kannst du hier nachlesen:
Bildquelle: Immo Wegmann, unsplash