In manchen Nachbarländern sind synthetische Opioide bereits gefragter als Heroin. Wird Fentanyl bald die neue deutsche Welle auf dem Drogenmarkt?
In den USA ist die Opioidkrise längst da. Das betrifft nicht nur natürliche und auch nicht nur verschreibungspflichtige Opioide. Denn die vollsynthetischen Opioide breiten sich ebenso epidemieartig aus – und zwar vorrangig auf illegale Weise, wie dem bisher umfassendsten Bericht über Fentanyl zu entnehmen ist: Die Zukunft von Fentanyl und anderen synthetischen Opioiden. Der US-amerikanische Wissenschaftler Bryce Pardo und seine Kollegen werteten unzählige Berichte und Studien zum Thema aus und führten Interviews mit Experten aus den Bereichen Drogenpolitik, Suchtberatung, medizinische Versorgung, Gesundheitswesen, Polizei und Strafjustiz.
Im Vergleich zur Situation in den USA ist die Fentanylwelle im europäischen Raum noch recht sanft. Doch auch bei uns lassen sich bestimmte Trends beobachten. Ein analytischer Blick auf den Status Quo.
Besonders gut ist die Datenlage zur Entwicklung von synthetischen Opioiden für die Länder Schweden, Finnland, Estland und Lettland, weshalb sie im Bericht zum Vergleich mit den USA heranzogen werden.
Doch werfen wir erstmal einen Blick auf Deutschland. Zum Handel und Missbrauch von synthetischen Opioiden in Deutschland lässt sich zahlenmäßig nichts Konkretes sagen. Im aktuellen Drogen- und Suchtbericht für Deutschland aus dem Jahr 2018 ist lediglich die Rede von Opioiden. Es gibt keine Auflistung, die zwischen natürlichen und (halb)synthetischen Opioiden unterscheidet, somit liegen auch zum Missbrauch von Fentanyl in allen Formen keine Zahlen vor.
Interessant wird es erst, wenn man sich mit den Daten zu den Drogentoten in Deutschland beschäftigt. Denn hier tauchen explizit synthetische Opioide bei den Todesursachen auf. Wenn man einen Blick auf die Auflistung von Rauschgifttoten nach Todesursachen des Bundeskriminalamts für den Zeitraum 2016 und 2017 wirft, ist eine sehr deutliche Zunahme zu erkennen:
Einer bayrischen Studie zufolge ist etwa die Zahl der Todesfälle durch Überdosierungen mit Fentanyl drastisch gestiegen seit fentanylhaltige Matrixpflaster im Jahr 2004 eingeführt wurden.
Auch Daten für Europa scheinen den Trend in Hinsicht auf den Missbrauch synthetischer Opioide zu bestätigen. Denn die Zahl der Sicherstellungen, die dem EU-Frühwarnungssystem gemeldet wurden, ist in den letzten Jahren enorm angestiegen. Das gilt vor allem für synthetische Opioide in Pulver- und Tablettenform.
Sicherstellungen synthetischer Opioide, Quelle: Europäischer Drogenbericht 2019
Ein Blick auf diese Statistiken legt nahe: In Deutschland werden immer mehr synthetische Opioide auf illegalem Weg konsumiert, nur hingeschaut wird noch nicht aufmerksam genug.
In einigen Ländern erlebte Fentanyl einen Aufschwung, nachdem es zu Engpässen im Angebot traditioneller natürlicher Opioide kam. Gemeint ist hier vor allem Heroin. Als Beispiel nennen die Autoren Estland, wo es in den frühen 2000ern zu einer Knappheit von Heroin kam. Dadurch wurde die Ausbreitung von synthetischen Opioiden begünstigt und Fentanyl drängte kontinuierlich Heroin vom Drogenmarkt. Für einige Monate sank der Fentanylkonsum in Estland allerdings. Der Grund: Die Behörden griffen im Jahr 2017 ein und es gelang, Verteilungsnetzwerke zu zerstören. Im Zuge dessen wurden die meisten Großdealer inhaftiert, was zu Sicherstellungen im Rekordausmaß führte, auch ein Fentanyllabor wurde geschlossen. Etwa sechs Monate lang war die Substanz kaum zu bekommen, erfahren die Autoren in Interviews mit Experten. Seitdem ist die Zahl der mit Drogenmissbrauch in Verbindung stehenden Todesfälle nachhaltig gesunken: So gab es 110 Tote im Jahr 2017 und nur noch 40 Tote im Jahr 2018. Das Angebot wurde inzwischen teilweise wieder hergestellt, allerdings sind die Preise deutlich höher als früher – in etwa 20 bis 25 Euro pro Dosis, heißt es im Bericht.
In Schweden tauchte Fentanyl erstmals sporadisch in den 90ern auf. Fälschlicherweise als Heroin verkauft führte es zu neun Todesfällen. In den frühen 2000ern gab es ein kurzes erneutes Aufkommen. Damals wurde Fentanyl allein oder mit Heroin kombiniert und dann entweder als Heroin oder als sogenanntes „China White“ verkauft, bis die Droge 2004 wieder verschwand. Um deutlich zu machen, wie üblich das Kombinieren mehrerer Drogen ist: Im Jahr 2017 gab es in den USA 15.000 durch Heroin-Überdosis verursachte Todesfälle. Bei der Hälfte dieser Fälle waren auch synthetische Opioide involviert. Oder aber der Lieferant bietet ein Gemisch an wie z.B. mit Fentanyl angereichertes Kokain.
Im Jahr 2006 bahnten sich die Fentanylpflaster den Weg in die schwedische Drogenszene, abgezweigt aus dem Bereich der Gesundheitsversorgung. Zur Prävalenz von Fentanyl-Anwendern in Schweden gibt es lediglich Schätzungen. Die Rolle von Fentanyl oder Derivaten hat sich geändert: Zwischen 2014 und 2017 wurden deutlich mehr Todesfälle erfasst, die unter anderem im Zusammenhang mit Fentanyl und Analoga standen, als im Vorjahr. Stabil ist hingegen die Zahl der angegebenen Todesfälle durch Heroin geblieben.
Finnland unterscheidet sich völlig von den anderen Ländern: Im gleichen Jahr wie in Estland kam es auch in Finnland zu einer Disruption des Marktes und zu Heroinengpässen. Als „Gewinner“ ging aber nicht Fentanyl hervor, sondern Buprenorphin. Das Opioid-Analgetikum kommt als Schmerzmittel oder auch im Rahmen der Substitutionstherapie bei Opioidabhängigkeit zum Einsatz (wir berichteten). Seit 2005 gilt in Finnland Buprenorphin als Hauptdroge im Bereich der Opioide, während Heroin nur noch selten gesichtet wird, der Switch scheint also permanent zu sein.
Die Entwicklungen legen nahe, dass es auch in anderen Ländern wie beispielsweise in Deutschland zu so einem Switch von etablierten Drogen wie Heroin hin zu synthetischen Opioiden wie Fentanyl kommen kann, wenn nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um genau diesen Trend zu stoppen oder zumindest einzudämmen.
Das war der zweite Teil der Fentanyl-Saga. Die beiden anderen Teile kannst du hier nachlesen:
Bildquelle: San Jose, Wikimedia Commons
Der Artikel wurde am 16.10.2019 aktualisiert.