Die Zahl an Opioid-Erstverschreibungen nimmt in Deutschland zu. Ist das ein Grund, alarmiert zu sein? Wir vergleichen die Situation in Deutschland mit der in den USA.
In den Medien wird das Thema Opioid-Epidemie immer wieder beleuchtet. Gerne wird dann erklärt, warum auch Deutschland kurz vor der Opioid-Krise steht.
Das berichtete vor vier Wochen der Merkur
So titelte die Welt bereits 2018
Um einschätzen zu können, ob Deutschland solch eine Epedimie droht, muss man genauer beleuchten, wie es in den USA dazu kommen konnte.
Aktuell wird verhandelt, wer die Schuld daran trägt, dass in den USA mehr als 130 Menschen täglich aufgrund von Vergiftungen durch Opioid-haltige Arzneimittel sterben. Sind es die Patienten selbst, die ihre Medikamente bewusst falsch dosieren oder die verschreibenden Ärzte oder vielmehr die Hersteller? Die Richter versuchen, das komplexe Gewirr zu entflechten. Was sie herausfinden, zeigt, wie systematisch die Industrie über Jahre hinweg vorgegangen ist.
Die Staatsanwälte halten den US-Pharmakonzern Johnson & Johnson für einen der zentralen Player. Kürzlich wurde das Unternehmen in Oklahoma wegen unrechtmäßiger Vermarktung von suchtgefährdenden Schmerzmitteln verurteilt. Der Konzern muss 572 Millionen US-Dollar an den Staat Oklahoma bezahlen, um langfristige Folgen der Opioid-Epidemie abzumildern. Ursprünglich hatte die Generalstaatsanwaltschaft 17 Milliarden Dollar gefordert. Medien sprechen von insgesamt 6.100 Todesfällen zwischen 2000 und 2017.
Trotz der vergleichweise milden Strafe kündigte Johnson & Johnson an, in Berufung zu gehen. Seine Schmerzmittel würden nur einen Bruchteil der in Oklahoma verschriebenen Opioide ausmachen, heißt es zur Begründung. Das US-Pharmaunternehmen Purdue Pharma hatte einer Vergleichszahlung von 270 Millionen Dollar zugestimmt (in 2007 waren schon mal 534,5 Millionen Dollar fällig), und der israelische Pharmahersteller Teva musste 85 Millionen Dollar berappen, um den Prozess abzuwenden.
Wie konnte es soweit kommen?
1. Hole deine Konkurrenten mit ins Boot
Mike Hunter, seines Zeichens Generalstaatsanwalt von Oklahoma, fasste die Vorwürfe in einer Pressemeldung zusammen. Demnach soll sich Johnson & Johnson mit seinem vermeintlichen Konkurrenten Purdue Pharma mehrmals getroffen haben, um Strategien zu besprechen. Purdue, geführt von der Familie Sackler, hatte daran größtes Interesse. Es ging um die Frage, wie sich ausreichende Mengen an Morphin gewinnen lassen, um daraus per Partialsynthese Oxycodon (OxyContin®) herzustellen.
„Johnson & Johnson erzeugte 1994 einen mutierten Mohnstamm, der es ermöglichte, große Mengen an Opioiden herzustellen und zu liefern“, schreibt Hunter mit Hinweis auf „langfristige Lieferverträge“ beider Firmen. Damit habe Johnson & Johnson jahrelang mehr als 60 Prozent aller Grundstoffe für Opioide in den USA bereitgestellt.
2. Wecke Begehrlichkeiten bei Ärzten und Patienten
Genau hier liegt Hunter zufolge der Knackpunkt: Duragesic® (US-Handelsname) und Nucynta® aus dem Hause Johnson & Johnson sind keine Blockbuster. Der umstrittene Konzern verdiente jedoch über Ausgangsstoffe zur Herstellung anderer Opioide kräftig mit.
Ein – wie es der Staatsanwalt nennt – „markenloses Marketing“ zeigte rasch Erfolge. Zwischen 2000 und 2011 besuchten Vertriebsmitarbeiter von Johnson & Johnson fast 150.000 Mal Ärzte in Oklahoma und empfahlen ihre synthetischen Opioide – wie Fentanyl, Tapentadol und Tramadol.
Außerdem seien gezielt Frauen von Kriegsveteranen angesprochen worden, um die Schmerzmittel populär zu machen. Eine Website richtete sich speziell an Kinder und Jugendliche. Und sicher nicht nur in Oklahoma. Die aktuellen Ermittlungen sind jedoch räumlich auf Oklahoma begrenzt.
3. Erweitere die Indikationen nach Belieben
Auch beim Einsatz von Opioiden gibt es Grund zur Klage. Weltweit empfehlen Leitlinien, bei der Analgesie mit schwach wirksamen, nicht-opioiden Pharmaka zu beginnen, etwa NSAIDs. Ohne ausreichenden Erfolg verordnen Ärzte anschließend niedrigpotente und danach eventuell hochpotente Opioide.
Dieses WHO-Stufenschema ist kein starres Korsett, aber immer noch eine Hilfe zur methodischen Herangehensweise – wenigstens in Deutschland. Das hat seinen Grund, denn Opioide stehen gerade langfristig mit einem hohen Abhängigkeitspotenzial in Verbindung.
Doch dank etlicher Kampagnen wurde Oxycodon schnell zum vermeintlich harmlosen Wundermittel. Ärzte schrieben es Schülern nach Sportunfällen oder Patienten nach einer Zahnextraktion auf. Auch Senioren mit leichten degenerativen Erkrankungen der Gelenke gingen mit Opioid-Rezepten aus der Praxis. Diese rutschten in die Sucht, weil sie monate- oder jahrelang Verordnungen bekamen.
Und wenn der Doktor plötzlich die Notbremse zog, gab es trotzdem Alternativen. Man ging zu sogenannten „Pill Mills“ mit willigen Ärzten – für ein Honorar von 100 bis 200 US-Dollar ließ sich kein Mediziner lumpen. Und die Apotheke nebenan hatte alles auf Lager. Plötzlich verlagerte sich Opioidabhängigkeit als bekanntes Phänomen aus sozialen Brennpunkten der Großstädte hin zur Mittelschicht in ländliche Regionen.
Die Strategie, unerwünschte Effekte zu verharmlosen, brachte Purdue bereits 2007 eine dicke Strafe ein, jetzt muss sich Johnson & Johnson ähnlichen Vorwürfen stellen. Auch gegen „Pill Mills“ gehen etliche Bundesstaaten vor.
4. Nutze lasche Regelungen aus
Dass die Masche so lange gut ging, hat aber noch einen anderen Grund. Johnson & Johnson kamen laxe US-Regelungen im Umgang mit BtM zugute. Der Controlled Substances Act teilt Arzneimittel in fünf Kategorien ein (Schedule I-V), wobei nur Schedule II bis V in der Praxis relevant sind.
Hydrocodon, ein anderes bekanntes Opioid, war bis 2014 in Schedule III. Das heißt, normale ärztliche Rezepte durften insgesamt fünf Mal beliefert werden, wobei dies im Zeitfenster von sechs Monaten möglich war. Danach landete der Wirkstoff in Schedule II mit einmaliger Abgabe der verordneten Menge. Trotzdem gibt es keine Kontrollen bei der BtM-Abgabe, wie das in Deutschland der Fall ist.
Bürokratie hat auch ihre guten Seiten
Bei uns werden Höchstverschreibungsmengen definiert, die Ärzte nur in Ausnahmefällen überschreiten dürfen. BtM-Rezeptdurchschläge, Lieferscheine und Nachweise über die monatliche Bestandskontrolle sind drei Jahre aufzubewahren und auf Verlangen der zuständigen Aufsichtsbehörde vorzulegen.
Die Hemmschwelle zur BtM-Abgabe in Deutschland ist demnach hoch, vielleicht sogar zu hoch, wie eine Palliativmedizinerin kritisiert: „Häufig sind die Leute medikamentös unterversorgt. Sie haben ein relativ schwaches Schmerzmittel.“
In Deutschland weisen Sucht und Abhängigkeit andere Merkmale auf im Vergleich zu den USA. Das zeigt auch der kürzlich veröffentlichte Epidemiologische Suchtsurvey. Demnach hatten im letzten Monat rund 70 Prozent aller Befragten Alkohol und 28 % Tabak konsumiert. Etwa 31 % verwendeten OTC-Analgetika und weitere rund 18 % gaben an, verordnete Schmerzmittel zu verwenden.
Im Rx-Bereich wurde nicht zwischen BtM und sonstigen Wirkstoffen unterschieden. Älteren Analysen zufolge liegt die Prävalenz eines Opioidanalgetika-Abusus nach DSM-V bei zirka 1,0 Prozent. Demnach steht die Analgetika-Abhängigkeit mit nichtopioiden Wirkstoffen, etwa ASS, Paracetamol oder Ibuprofen, in Zusammenhang.
Wehret den Anfängen
Kritische Stimmen gibt es aber auch bei uns. „In Deutschland droht eine Opioid-Epidemie wie in den USA“, sagt Prof. Christoph Stein, Direktor der Klinik für Anaesthesiologie und operative Intensivmedizin an der Charité Berlin (dieser Experte wird auch im eingangs genannten Welt-Artikel zitiert). „Der Pro-Kopf-Verbrauch von Opioiden ist in Deutschland bereits erschreckend hoch und unterscheidet sich kaum noch von dem in den USA.“
Diese Einschätzung ist umstritten. Zwischen 2000 und 2010 nahm die Zahl an Opioid-Erstverschreibungen aufgrund von nicht tumorbedingten Schmerzen um 37 Prozent zu, berichtet Dr. Johannes Just vom Universitätsklinikum Bonn.
Und Prof. Thomas Tölle vom Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München hat vier Millionen Datensätze aus GKV-Registern analysiert. Diese repräsentative Stichprobe wurde auf die Gesamtbevölkerung extrapoliert. Demnach gibt es bundesweit rund 640.000 Langzeit-Opioid-Patienten, Stand 2014. Jeder vierte gilt hinsichtlich möglicher Abhängigkeit als gefährdet.
Die Analysen zeigen, dass es notwendig ist, die Zahlen der Langzeit-Opioid-Patienten im Blick zu haben, ebenso wie die Opioid-Verschreibungen. Von einer Opioid-Epidemie nach amerikanischem Vorbild kann aber keine Rede sein.Bildquelle: Pexels/Pragyan Bezbaruah