MEIN KNIFFLIGSTER FALL | Seit etwa einem Jahr hat die Gastroenterologin immer wieder plötzlich einsetzende Schmerzen im Oberbauch. Erst behandelt sie sich selbst, dann helfen die Kollegen. Schlechter hätte es nicht laufen können.
Die 35-jährige Internistin und Gastroenterologin, langjährig im Akutkrankenhaus tätig und sich bisher guter Gesundheit erfreuend, beklagte über ca. 1 Jahr lang plötzlich einsetztende und starke strikt im Oberbauch lokalisierte Schmerzen. Die Schmerzen traten vollkommen unabhängig von Mahlzeiten und Uhrzeiten auf. Keine weiteren begleitenden Beschwerden.
Da unter Dauerstress stehend, vermutete die Kollegin zunächst eine Gastritis und behandelte sich selbst mit Pantoprazol- und Metamizol-Tabletten. Hierunter verschwanden die Beschwerden für den Moment rasch, traten jedoch in unregelmäßigen Abständen wieder mit stärkster Intensität auf: Bei der Arbeit, beim Einkaufen, im Urlaub.
Auf der Arbeit wurde sie von Kollegen belächelt – um nicht zu sagen, nicht für voll genommen. Eine orientierende Ultraschalluntersuchung im Dienst zeigte keine Pathologika. Auch laborchemisch zeigten sich keine Auffälligkeiten. In beschwerdefreiem Zustand war der Urinstatus unauffällig.
Die Mutter der Patientin, Allgemeinärztin, auch ratlos. Ärztliche Freunde und Bekannte ebenfalls. Sie schlossen nicht, entgegen aller Regeln der Kunst, zunächst somatische Ursachen aus und vermuteten, jedoch immer nur unterschwellig, eine psychosomatische Komponente.
Der letztendlich dramatischste Fehler war die fehlende genaue körperliche Untersuchung von einem anderen Arzt während der Schmerzepisode.
Die Patientin entschied sich dazu, bei einem niedergelassenen Gastroenterologen eine Magenspiegelung machen zu lassen. Diese zeigte sich unauffällig. Diskutiert wurde eine Nahrungsmittelunverträglichkeit.
Eines morgens, vor Beginn der Arbeit, traten die Beschwerden erneut von stärkster Intensität auf, sodass sich die Kollegin dazu entschied, nicht wie üblich Novalgin einzunehmen und zur Arbeit zu gehen, sondern sich in der Universitätsklinik der gleichen Stadt vorzustellen, wo sie eher nicht auf Arbeitskollegen treffen würde. Welch intuitiver Moment!
Ihr Freund fuhr sie in die Notaufnahme und eine junge Kollegin widmete sich vollkommen professionell und objektiv der Anamnese und der körperlichen Untersuchung. Die Schmerzen wurden von der Patientin im Oberbauch wahrgenommen und waren auch durch dortige Palpation auslösbar.
Viel wichtiger war jedoch der rechtsseitige Nierenlagerklopfschmerz – zuvor von keinem anderen Kollegen durchgeführt. Welcher Internist führt schon eine körperliche Untersuchung bei einer schmerzgeplagten Kollegin, die sich auf Visite befindet, durch? Die erfahrene Internistin, wissend, dass zu Abdominalbeschwerden ein Urinstatus gehört, führte diesen jedoch bei sich selbst nicht in der akuten Situation durch.
Letztendlich zeigten sich Erythrozyten im Urin und Calciumoxalat, sodass von einer Nierenkolik ausgegangen wurde. Ein Harnstau lag nicht vor. Da die Patientin beschwerdefrei war und erleichtert, ging sie, wie es sich für einen allwissenden Internisten gehört, nach Hause. Die Nierenkolik war ja vorbei.
24 h später wachte sie aus dem Schlaf heraus mit erneuten stärksten Schmerzen im Oberbauch auf und wurde erneut von ihrem Freund in die Universitätsklinik gebracht. Diesmal direkt in die Urologie. Zuvor sagte sie noch bei der Arbeit, unter Schmerzen, Bescheid, dass sie wieder nicht kommen könne. Die Frage ihrer Oberärztin, ob sie mal eben noch einen Ersatz für ihren Dienst suchen könne, verneinte sie freundlich, jedoch vehement.
In der urologischen Notaufnahme zeigte sich nun ein Harnstau II. Grades rechtsseitig. Unter Opiaten wurde die Patientin erneut beschwerdefrei. Im CT Abdomen zeigte sich ein einzelner winziger (ca. 2 x 2 mm) großer prävesikaler Nierenstein, welcher alleine passieren können müsste. Die Patientin siebte ihren Urin über knapp 48 h, benötigte immer wieder Schmerzmittel, sodass man sich zu einer Operation entschied.
Intraoperativ zeigte sich eine (anlagebedingte?) Ureterostiumstenose rechtsseitig, welche der kleine Stein nicht passieren konnte. Es erfolgte die Bougierung, Steinentfernung und Anlage einer Double-J-Schiene, welche die Patientin noch ca. 2-3 Wochen trug, bevor sie entfernt wurde.
Seitdem (2 Jahre) war die Patientin absolut beschwerdefrei, sodass man davon ausgehen kann, dass es sich um diesen einzigen winzigen solitären Nierenstein handelte, der das enge Ureterostium nicht passieren konnte.
Sämtliche beteiligten Kollegen, ärztlichen Verwandte und Bekannte schienen von der Entwicklung nicht überrascht und emotional vollkommen unbeeinträchtigt. Sie selbst versinkt im Boden vor der allseits erfahrenen Inkompetenz. Sich selbst eingenommen.Nach der American Medical Association ist der Sachverhalt klar geregelt: Ärzte sollten sich selbst oder enge Familienangehörige grundsätzlich nicht behandeln, heißt es in dem 1993 veröffentlichten AMA Code of Medical Ethics (Opinion 8.19). Zu groß sei die Gefahr, dass in solchen Fällen die professionelle Urteilsfähigkeit durch die persönliche Gefühlslage beeinträchtigt werde.
„Professional objectivity may be compromised when an immediate family member or the physician is the patient.“ Diese höchst professionelle Haltung wird in den USA gelebt.
Dieser Beitrag ist von Ioana Ionascu. Mit dieser Kasuistik hat sie unseren DocCheck-Wettbewerb Dein kniffligster Fall gewonnen. Vor einigen Wochen hatten wir Ärzte gebeten, einen Fall mit uns zu teilen, der sie besonders beschäftigt hat. Daraufhin erreichten uns viele spannende Beiträge.
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