Leider spukt der sogenannte Kristeller-Handgriff noch immer durch die Kreißsäle, obwohl ein Nutzen nicht bewiesen, Schäden aber dokumentiert sind.
Was aus der Not vor über 150 Jahren geboren wurde, sollte endgültig aus der modernen Geburtshilfe verbannt werden. Die Rede ist vom Kristeller-Handgriff. Samuel Kristeller, ehemaliger gynäkologischer Leiter der Charité, hat diese nach ihm benannte Methode erstmalig 1867 beschrieben: Durch wehensynchronen Druck auf den Uterusfundus kann während der Austreibungsphase in den Geburtsverlauf eingegriffen werden. Innerhalb einer protrahierten Austreibungsperiode mit abfallenden kindlichen Herztönen und Erschöpfung der Mutter war dies neben der Geburtszange eine der wenigen Möglichkeiten, um den Entbindungsprozess zu beschleunigen. Weder routinemäßige Kaiserschnitte noch Vakuumextraktionen wurden damals durchgeführt. Die Handhabung der heute sehr umstrittenen Methode ist nicht einheitlich. Manche Geburtshelfer schieben den Fundus mit beiden Händen, andere mit dem gesamten Unterarm und erhöhen die Hebelwirkung dabei mit einer textilen Halteschlinge am Entbindungsbett.
Mittlerweile ist man sich einig, dass diese Methode in der modernen Geburtshilfe keine Berechtigung hat, da ein Nutzen nicht bewiesen, aber Schäden in Studien dokumentiert wurden. Bei der Mutter kann es beispielsweise zu Hämatomen, Rippenverletzungen und folgenreichen Verletzungen der Beckenbodenmuskulatur kommen. Der kindliche Kopf wird gestaucht, Verletzungen des Skelettsystems und der Nervenbahnen sind möglich.
Da besonders bei protrahierten Geburtsverläufen kristellert wird, ist es im Nachhinein schwierig festzustellen, ob etwa eine kindliche Hypoxie oder mütterliche Beckenbodenverletzungen durch den ungünstigen Verlauf oder die manuelle Manipulation verursacht wurden. Weiterhin wird der Kristeller-Handgriff oft weder dokumentiert, noch mit der Patientin kommuniziert. Die Folgen sind, neben organischen, auch nicht zu vernachlässigende psychische Traumata. Dennoch wird der obsolete Handgriff in manchen deutschen Kreißsälen noch durchgeführt, wie ein Artikel in der Fachzeitung „Die Hebamme“ berichtet. Statistiken existieren darüber nicht. Zum Glück gibt es auch Gegenbeispiele, wie mir Dr. Andreas Brandt, ärztlicher Leiter des Perinatalzentrums in Offenburg mit über 2200 Entbindungen pro Jahr auf Anfrage bestätigte: „Seit über 10 Jahren ist der Kristeller-Handgriff in unseren Kreißsälen obsolet. Wir sehen durch ihn keinen Nutzen, sondern nur Verletzungsgefahren für Mutter und Kind. Außerdem gibt es gute Alternativen.“
„Mit etwas mehr Geduld in der letzten Geburtsphase, wechselnden Gebärpositionen, spätem aktiven Mitschieben und speziellen Beckenbewegungen erübrigt sich der Einsatz des schmerzhaften Fundus-Drucks. Wenn wir der Frau eine energetische Position mit Halt für Arme und Füße ermöglichen, wird sie ihr Kind meist selbst herausdrücken können – ohne Kristeller-Hilfe“, so treffend formuliert in der Fachliteratur „Die Hebamme“. In vielen Fällen führt genau das zu einer sanften, natürlichen Entbindung. Kommt es allerdings zu einer Gefahrensituation, die ein schnelleres Eingreifen notwendig macht, stehen heute schonendere vaginal-operative Methoden zur Verfügung, wie etwa ein Handvakuum vom Typ KIWI®Saugglocke. Hierbei sind apparativer Aufbau und Verletzungsgefahren geringer als bei herkömmlichen Vakuumgeräten bzw. der Geburtszange, die kaum noch Verwendung findet. Der Nachteil ist, dass es sich um ein Einmalgerät handelt.
Anders als zu Zeiten von Samuel Kristeller ist heute eine Entbindung per Kaiserschnitt relativ unkompliziert möglich. Dennoch handelt es sich um einen operativen Eingriff, dem immer eine medizinische Indikation vorausgehen sollte.
Die Kaiserschnittrate deutscher Kliniken ist sehr unterschiedlich und von verschiedenen Faktoren abhängig. Mittlerweile kommt nahezu jedes dritte Kind per Sectio zur Welt, eine Tatsache, die in einem gesonderten Artikel betrachtet werden soll.
Adam Elias von Siebold, knapp 50 Jahre älter als Samuel Kristeller und Mitbegründer der Gynäkologie an der Charitè, hat es etwa so ausgedrückt: „Stille und Ruhe, Zeit und Geduld, Achtung der Natur und der gebärenden Frau“.
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