Apotheker lecken ihre Wunden, nachdem sie beim E-Health-Gesetz nur eine Nebenrolle spielen. Genug gejammert! Ärzte zeigen einen Weg aus dem Dilemma – und zwar mit Selbstzahler-Leistungen. Von ihnen könnten Pharmazeuten viel lernen.
Anfang Dezember haben Union und Sozialdemokraten ihr umstrittenes „Gesetz für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen (E-Health-Gesetz)“ in zweiter und dritter Lesung beraten und verabschiedet. Zu Überraschungen kam es nicht mehr: Ab Oktober 2016 haben Patienten, die drei oder mehr Arzneimittel als Dauertherapie schlucken, Anspruch auf einen Medikationsplan in Papierform. Apothekern ist es trotz großer Mühen nicht gelungen, Hermann Gröhe (CDU) umzustimmen.
Der Bundesgesundheitsminister spannt Mediziner ein, legt aber nochmals eine Schippe darauf. Er verpflichtet Kassenärzte, bei jeder Verordnung Patienten über deren Anspruch auf einen Medikationsplan zu informieren. Sie müssen auch jede Änderung eintragen. Für entsprechende Leistungen winkt zur Freude von Krankenkassen ein Honorar aus dem regulären Budget. Bleibt anzumerken, dass dieser Wert – anders als bei Apotheken – regelmäßig angepasst wird. Pharmazeuten kommen nur im Nebensatz vor: „Auf Wunsch des Versicherten hat die Apotheke bei Abgabe eines Arzneimittels (...) eine Aktualisierung des Medikationsplans vorzunehmen.“ Vergütungen erhalten Kollegen nicht. Neben betriebswirtschaftlichen Mängeln kommen wissenschaftliche Bedenken noch hinzu.
Das Gesetz sieht anfangs wenig zeitgemäße Ausdrucke vor, was aus aktuellem Blickwinkel unvermeidlich erscheint. Trotz jahrelanger Vorbereitung leisten elektronische Gesundheitskarten (eGK) nicht mehr, als Stammdaten zu speichern. Gröhe macht Druck und will bis Mitte 2018 erste Online-Funktionalitäten wie die Korrektur von Patienteninformationen sehen. Anschließend fordert der Bundesgesundheitsminister elektronische Medikationspläne. Immerhin handelt es sich um einen Schritt in die richtige Richtung. Vom Quantensprung will niemand sprechen. Schließlich haben sich Apotheker mit ihrer Forderung, ein echtes Medikationsmanagement anzubieten, nicht durchgesetzt. Aus pharmazeutischer Sicht ist der Mehrwert derzeit fraglich. Trotzdem müssen Kollegen mit Folgen im Tagesgeschäft rechnen.
Standesvertreter halten mehrere Szenarien für denkbar. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Ärzte ihren Patienten gezielt Medikationspläne anbieten – dem Honorar sei Dank. Bleiben noch OTCs als größte Fehlerquelle. Diese Information kommt theoretisch von Versicherten selbst. In der Praxis erinnern sich viele Laien aber kaum an die Namen ihrer Präparate. Hier sind Apotheker gefragt, wenn auch ohne Vergütung. Wie groß der bürokratische Aufwand tatsächlich sein wird, lässt sich schwer abschätzen. Bleibt nur, aus der Not eine Tugend zu machen.
Ärzte kennen die Problematik fehlender Vergütungsmöglichkeiten schon seit Jahren. Sie offerieren Patienten deshalb individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL). Von 2001 (8,9 Prozent) bis 2015 (33,3 Prozent) ist der Anteil GKV-Versicherter mit IGeL-Erfahrung rapide gestiegen, berichten Versorgungsforscher des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Sie identifizierten das Haushaltseinkommen als entscheidende Größe. Patienten mit weniger als 1.000 Euro netto IGeLn seltener (19,1 Prozent) als Menschen mit 1.000 bis 2.000 Euro (31,8 Prozent), 2.000 bis 3.000 Euro (37,6 Prozent), 3.000 bis 4.000 Euro (39,7 Prozent) oder mit mehr als 4.000 Euro (40,7 Prozent). Weitere Unterschiede gab es zwischen niedriger (26,9 Prozent), mittlerer (36,3 Prozent) und hoher Schulbildung (35,8 Prozent). Besonders interessant sind zusätzliche Leistungen für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Hier nennt die Untersuchung vor allem Diabetes (32,9 Prozent), koronare Herzkrankheit (34,9 Prozent) oder Hypertonie (34,9 Prozent). Auf der Basis einer Hochrechnung sprechen WIdO-Forscher von 1,03 Milliarden Euro pro Jahr. Versicherte greifen für ihre Gesundheit tief in die eigene Tasche. Apotheker haben gute Chancen, ein Stück vom Kuchen abzubekommen.
Der wichtigste Schritt ist, Laien über Vorteile eines Medikationsmanagements aufzuklären. An wissenschaftlichen Fakten mangelt es nicht. Dazu einige Ergebnisse der „Westphalian study on a medication therapy management and home care based intervention under gender specific aspects in elderly multimorbid patients” (WestGem). Eingeschlossen wurden 142 Patienten über 65 mit drei oder mehr chronischen Erkrankungen aus zwei verschiedenen Organsystemen. Als primären Endpunkt definierten Apotheker Veränderungen beim Medication Appropriateness Index (MAI). Diese Skala gibt an, wie sinnhaft Pharmakotherapien sind. Je mehr Interventionen stattfanden, desto besser war der MAI-Score und desto weniger arzneimittelbezogene Probleme traten auf. Forscher zeigen erstmals für Deutschland, dass ein Medikationsmanagement größere Erfolge bringt als eine Medikationsanalyse: klare Argumente, um Kunden zu überzeugen. Hier verbergen sich gewaltige Möglichkeiten.
Dr. Frank Diener, Generalbevollmächtigter der Treuhand Hannover, präsentierte Anfang 2015 grobe Schätzungen aus betriebswirtschaftlicher Sicht. Er nahm 40 Euro als reine Gehaltskosten pro Stunde an. Zudem ging er davon aus, dass sieben Millionen Patienten mehr als fünf Arzneimittel in Dauermedikation einnehmen und entsprechende Leistungen benötigen; damals war noch nicht von drei Präparaten die Rede. Bei 20 Minuten Zeitaufwand pro Patient und Quartal errechnete Diener 18.000 Euro, bei 20 Minuten pro Patient und Woche sogar 240.000 Euro, jeweils auf ein Jahr und eine Apotheke bezogen. Große Zahlen, die sich nicht eins zu eins in die Realität übertragen lassen. Sie zeigen jedoch, welche Potenziale individuelle Gesundheitsleistungen haben könnten.