Die Astrozyten sind dafür verantwortlich, dass bei Multipler Sklerose oder anderen Gehirnentzündungen die kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt sind. Sie „fühlen“ die Entzündung und beeinflussen die neuronalen Verbindungen der Gedächtnisbildung direkt so, dass Defizite daraus resultieren.
Dass Gehirnentzündungen die kognitiven Funktionen beeinträchtigen, so zum Beispiel bei Autoimmunerkrankungen wie der Multiplen Sklerose (MS) oder bei Alzheimer, wird vermutet. Bis heute konnte aber nicht lückenlos bewiesen werden, dass kognitive Einschränkungen tatsächlich die direkte Folge der Entzündung sind. Andrea Volterra, Universität Lausanne, hat nun zusammen mit Kollegen von der Universität Zürich das fehlende Bindeglied identifiziert: es sind die Astrozyten, ein Zelltyp des Nervensystems. Die Wissenschaftler haben entdeckt, dass Astrozyten die Entzündung „fühlen“ und direkt die neuronalen Verbindungen der Gedächtnisbildung so beeinflussen, dass kognitive Defizite resultieren. Astrozyten machen etwa die Hälfte unserer Gehirnmasse aus. Obwohl man sie schon lange kennt, weiß man noch viel weniger über sie als beispielsweise über Neuronen. Astrozyten, Oligodendrozyten und Mikroglia, zusammengefasst Glia-Zellen, beinflussen ständig die Aktivität der Neuronen. Viele Hirnerkrankungen haben ihren Ursprung nicht in defekten Neuronen, sondern in der mangelhaften Interaktion zwischen Neuronen und Glia-Zellen. Während Glia-Zellen normalerweise eher versuchen würden, die Funktionen der Neuronen zu bewahren, zeigt die neue Studie nun, dass Astrozyten während einer Entzündung die Funktion der Neuronen beeinträchtigen.
„Die Astrozyten spüren das Zytokin TNF, einen Botenstoff der Entzündung“, erklärt der Neurobiologe Andrea Volterra, „und senden daraufhin ein Signal an die Neuronen.“ Im gesunden Hirn ist die Konzentration von TNF sehr niedrig und die Astrozyten unterstützen die Aktivität der Neuronen. Tritt im Hirn aber eine Entzündung auf, zum Beispiel im Fall von MS oder einer Infektion, nimmt die Menge an TNF stark zu und die Astrozyten reagieren darauf mit einer Veränderung der neuronalen Funktion. Geschieht dies in Bereichen des Gehirns, die für das Gedächtnis zuständig sind, wie zum Beispiel im Hippocampus, beeinträchtigt dies die Speicherung von Informationen und somit die Erinnerungsfähigkeit.
In Zusammenarbeit mit dem Immunologen Tobias Suter von der Klinik für Neurologie des Universitätsspitals Zürich und Adriano Fontana, Professor am Institut für Experimentelle Immunologie der Universität Zürich, hat Volterra diesen schädlichen Mechanismus in einem Maus-Modell von Multipler Sklerose (MS) nachgewiesen. Zusammen mit der Gruppe von Christopher Pryce, Prof. an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, haben die Forscher gezeigt, dass eine pathologisch erhöhte TNF-Konzentration, wie sie bei Multipler Sklerose vorkommt, die Gedächtnisleistung reduziert. „Wie bei MS-Patienten tritt diese Beeinträchtigung auch im Modell schon in asymptomatischen Phasen auf, wenn noch keine typischen MS-ähnlichen Bewegungseinschränkungen auftreten“, erklärt der Immunologe Suter.
Es besteht nun die Möglichkeit, diese spezifischen Rezeptoren mit Medikamenten zu blockieren, um den schädlichen Mechanismus zu unterbinden. „Dadurch können hoffentlich die kognitiven Beeinträchtigungen bei MS-Patienten und womöglich auch bei anderen entzündlichen neurologischen Erkrankungen gemildert werden“, sagt Pryce. Originalpublikation: Neuroinflammatory TNFα impairs memory via astrocyte signalling Samia Habbas et al.; Cell, doi: 10.1016/j.cell.2015.11.023; 2015