Führende Wissenschaftler sind sich inzwischen sicher, dass dem Epstein-Barr-Virus eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung der Multiplen Sklerose zukommt. Die Frage ist: Sind zielgerichtete Anti‑EBV-Therapien der richtige Weg, MS zu behandeln?
Dass HPV für die Entstehung des Zervixkarzinoms eine Rolle spielt, wurde lange Zeit nicht ernst genommen. Sagen wir bald das Gleiche über EBV und die Entstehung von MS?EBV ist ein ubiquitäres Herpesvirus mit einer starken Assoziation zu MS2. Auch wenn die Mechanismen hinter diesem Zusammenhang noch kontrovers diskutiert werden, verdichtet sich die Evidenzlage dafür, dass EBV das Gehirn infiziert und dass die antivirale Reaktion das ist, was pathologische Entwicklungen nach sich zieht, wenn Zellen des Immunsystems die EBV-infizierten Zellen finden und attackieren.3
„Die bei MS auftretende Inflammation ist nicht die eigentliche Erkrankung, sondern die Reaktion auf die Erkrankung.4“ So drückte es einer der derzeit führenden MS‑Spezialisten, Prof. Gavin Giovannoni, PhD, Leiter der Neurologie an der Barts and The London School of Medicine and Dentistry, London, in einem Vortrag zum Thema „Ist MS eine verhinderbare Erkrankung?“ aus. Er ist überzeugt, dass EBV nicht einer von vielen Risikofaktoren, sondern die primäre Ursache für MS ist. Mit dieser Ansicht steht er nicht allein.
Molekulare und immunologische Mechanismen
Aktuelle neuropathologische und immunologische Studien deuten darauf hin, dass eine persistierende EBV‑Infektion im ZNS eine CD8+‑T‑Zell-Antwort stimulieren könnte, die eigentlich darauf gerichtet ist, das Virus zu eliminieren, jedoch unbeabsichtigt ZNS-Schäden verursacht (in dem Zusammenhang wird oft von bystander damage gesprochen).3
In Kürze erscheinende Ergebnisse postmortaler Untersuchungen an Gehirnen von MS‑Patienten konnten EBV-spezifische, zytotoxische (CD8+-)T-Zellen (CTLs) nachweisen, die ins ZNS eintreten und lokal mit den virusinfizierten Zellen interagieren.2
Diese Arbeit ist potentiell von großer Bedeutung und beschreibt, dass eine große Anzahl von CD8+‑T‑Zellen im ZNS MS‑Kranker EBV‑spezifisch sind und sowohl auf EBV‑Proteine der latenten, als auch der lytischen Phase des EBV‑Lebenszyklus gerichtet sind. Diese antivirale, T‑Zell-vermittelte Immunantwort trägt wahrscheinlich zur MS‑Pathologie bei.
Diese Beobachtungen müssten natürlich weiter verfolgt und verifiziert werden, denn neben der Möglichkeit, dass EBV die Erkrankung vom ZNS aus antreibt, wäre ebenfalls denkbar, dass Effekte des Virus auf das periphere Immunsystem eine Rolle spielen.3
Infektiöse Mononukleose (IM) erhöht das Risiko für die Entwicklung einer MS und die Immunreaktivität auf EBV ist bei MS‑Kranken gesteigert, was ein Zeichen einer inadäquaten Viruskontrolle sein könnte.2
Ein ganz aktuelles systematisches Review, von dem seit Kurzem ein Pre-Print zur Verfügung steht, wertete Daten aus 262 wissenschaftlichen Volltext-Publikationen aus, die darüber hinaus für eine Interaktion von EBV mit einigen etablierten Risikofaktoren für MS sprechen.5 Die Wissenschaftler fanden Evidenz für eine Wechselwirkung zwischen dem Anti‑EBV-Antikörpertiter und dem HLA‑Genotyp. Eine frühere IM ging mit einem erhöhten Risiko für MS bei HLA-DRB1*15:01-positiven, aber nicht bei HLA-DRB1*15:01-negativen Personen einher. Rauchen war ebenfalls mit einer beinahe Verdreifachung des MS‑Risikos bei Menschen mit hohen Anti‑EBV-Antikörpertitern assoziiert, nicht aber bei jenen mit niedrigen Anti‑EBV-Antikörpern.
Targeted therapies: EBV-spezifische Immuntherapien
Alle DMTs (disease modifying therapies) scheinen über ihren Effekt auf B‑Gedächtniszellen zu wirken und dies ist auch die Zelle, in die sich das Virus einnistet.6 Hieraus leitet sich ein Target einer möglichen Immuntherapie ab.Prof. Michael Pender von der Universität Queensland vermutete schon länger, dass (bedingt durch eine gestörte CD8+‑T‑Zell-Immunität) EBV‑infizierte, autoreaktive B‑Zellen im ZNS akkumulieren könnten und testete in einer kleinen Pilotstudie EBV‑spezifische, autologe CTLs. Seine Resultate waren fast zu gut, um wahr zu sein. Die Mehrheit seiner MS‑Patienten war sehr fortgeschritten erkrankt, mit hohen EDSS-Scores und die Verbesserungen hinsichtlich der Behinderung waren immens.7
Seine Daten wurden jedoch von der globalen MS‑Community weitestgehend abgetan, weil das Studiendesign unverblindet war und die Daten aus nur einem Zentrum stammten. Eine beim diesjährigen ECTRIMS-Kongress im September vorgestellte Phase‑Ib-Studie8 an Patienten mit progredienter MS (diesmal multizentrisch) wurde zu einem der Highlights des Kongresses. Anstelle autologer Zellen setzte ATARA Bio für diese Studie MHC‑gematchte, allogene CTLs ein. Die gute Nachricht aus dieser Präsentation: diese Zellen scheinen eine sichere Therapieoption zu sein und konnten bei hohen Dosierungen Prof. Penders monozentrische Resultate reproduzieren.
Auch wenn es voreilig wäre, den Erfolg zu feiern, zeichnet sich ein bedeutender Paradigmenwechsel ab. Immer wieder sind in Foren und Blogs Kommentare von Patienten zu lesen, die schon lange an MS leiden und natürlich fragen: „EBV wird doch als Ursache schon seit Jahren vermutet, wann tun wir endlich etwas?“ Forscher wie Prof. Pender setzen sich seit über einer Dekade für diese Strategie ein, aber bislang wurde das Konzept von vielen Stellen nicht angenommen und ohne große Finanzierung bewegt sich nicht viel.
Nach diesen ersten Ergebnissen scheinen auf EBV gerichtete T-Zell-Immuntherapien dem Progress bei progredienten MS‑Formen vorzubeugen, die Symptome bedeutend zu lindern und verträglich zu sein. Pilotdaten, wie die eben genannten, öffnen eine Tür, indem sie auch Skeptiker überzeugen, größere Studien finanziell zu unterstützen.
Auch Prof. Giovannoni, der mit anderen Forschungsprojekten immer wieder erfolgreich war und bpsw. für Phase‑III-Studien zu DMTs wie Cladribin die Aufsicht hatte, musste beim Thema EBV selbst die Erfahrung machen, auf verschlossene Türen zu stoßen: „Ich war bereits 1999 von der Evidenz überzeugt, dass EBV wahrscheinlich die Ursache von MS ist. Seither habe ich daran gearbeitet und der Forschritt war sehr langsam. [...] Ich erhielt mehr Absagen auf Bewerbungen um Zuschüsse, als ich zählen kann. Es ist sehr deprimierend.“1
Nichtsdestotrotz bemühen sich seine und andere Forschungsgruppen um ein stärkeres Vorankommen. Dr. Ruth Dobson, PhD, klinische leitende Dozentin des Fachbereiches Präventive Neuologie an der Queen Mary Universität, London, leistet einen großen Beitrag dazu, eine Kohorte von Menschen mit hohem MS‑Risiko für explorative MS‑Präventionsstudien zusammenzustellen und wurde für Ihre bisherigen Forschungen bereits mit dem International Scholarship Award der American Academy of Neurology ausgezeichnet.9
Eine wichtige Arbeit für die MS‑Prävention stellt außerdem eine Impfstudie dar. Aktuell existiert kein zugelassener EBV‑Impfstoff, doch ein Team um Dr. Jeffrey Cohen, National Institutes of Health, USA, entwickelte zwei Kandidaten – nun braucht es noch eine finanzkräftiges Pharmaunternehmen, welches diese auf den Markt bringt.10
„Stellen Sie sich eine Welt vor, in der wir MS mit Anti‑EBV CTLs behandeln und die Betroffenen erhebliche Verbesserungen ihrer Behinderung verzeichnen. Dies wäre ein echter Paradigmenwechsel, ein black swan event! Über Nacht würde MS als infektiöse Erkrankung klassifiziert werden. Können Sie sich vorstellen, was mit dem MS DMT‑Markt geschehen würde? Ich hoffe für die MS‑Gemeinschaft ehrlich, dass diese bemerkenswerte Geschichte sich zur Wirklichkeit entwickelt“, schließt Prof. Giovannoni einen seiner Artikel zum Thema.6
„Jede Wahrheit durchläuft drei Stufen. Zuerst wird sie verlacht. Dann wird sie heftig bekämpft. Und schließlich wird sie als offenkundig akzeptiert.“
Arthur Schopenhauer (1788-1860)
Referenzen:
1. Giovannoni, G. The cause of MS. Multiple Sclerosis Research Blog http://multiple-sclerosis-research.org/2019/10/the-cause-of-ms/ (2019).
2. Serafini, B., Rosicarelli, B., Veroni, C., Mazzola, G. A. & Aloisi, F. Epstein-Barr virus-specific CD8 T cells selectively infiltrate the multiple sclerosis brain and interact locally with virus infected cells: clue for a virus-driven immunopathological mechanism. Journal of Virology JVI.00980-19 (2019) doi:10.1128/JVI.00980-19.
3. Giovannoni, G. A smoking gun? Multiple Sclerosis Research Blog http://multiple-sclerosis-research.org/2019/10/a-smoking-gun/ (2019).
4. Is MS a Preventable Disease? - Research Talk - Prof. Gavin Giovannoni. https://www.youtube.com/watch?v=F8I5fILj-dI.
5. Jacobs, B. M., Giovannoni, G., Cuzick, J. & Dobson, R. Systematic review and meta-analysis of the association between Epstein-Barr virus, Multiple Sclerosis, and other risk factors. medRxiv 19007450 (2019) doi:10.1101/19007450.
6. Giovannoni, G. Black Swan. Multiple Sclerosis Research Blog http://multiple-sclerosis-research.org/2019/09/black-swan-2/ (2019).
7. Pender, M. P. et al. Epstein-Barr virus–specific T cell therapy for progressive multiple sclerosis. JCI Insight 3, (2018).
8. Pender, M. Preliminary safety and efficacy of ATA188, a pre-manufactured, unrelated donor (off-the-shelf, allogeneic) Epstein-Barr virus-targeted T-cell immunotherapy for patients with progressive forms of multiple sclerosis.
9. Dr Ruth Dobson. https://multiplesclerosisacademy.org/speakers/dr-ruth-dobson/.
10. NIH researchers make progress toward Epstein-Barr virus vaccine. National Institutes of Health (NIH) https://www.nih.gov/news-events/news-releases/nih-researchers-make-progress-toward-epstein-barr-virus-vaccine (2019).
Bildquelle: Chris Lawton, Unsplash