Neurologen und Psychiater sind aufgeregt, beinah euphorisch. Eine neue Datenanalyse zeigt nun doch eine Wirkung für Aducanumab – bei höherer Dosierung. Nach meiner Einschätzung als Neurologe sind die Daten aus zwei Gründen überzeugend.
Der Pharmakonzern Biogen beendete im März 2019 vorzeitig zwei Studien. Es war ein herber Rückschlag in der Therapieforschung der Alzheimer-Demenz. Es ging um zwei Phase-3-Studien mit dem gegen Beta-Amyloid gerichteten Antikörper Aducanumab. Der Grund für den vorzeitigen Abbruch: Eine Zwischenanalyse hatte keinen Benefit gegenüber Plazebo gezeigt.
Nachdem bereits im Januar 2019 Roche eine Studie mit dem Antikörper Crenezumab vorzeitig beendet hatte (DocCheck berichtete), war die Enttäuschung in der Alzheimer-Community verständlicherweise groß und grundsätzliche Zweifel an der Amyloid-Kaskaden-Hypothese wurden verstärkt. Der Aktienkurs von Biogen brach innerhalb von Stunden nach der Bekanntgabe im März 2019 um rund 30 Prozent ein.
Nun hat die Firma am 22. Oktober völlig überraschend bekanntgegeben, dass sie im Jahr 2020 die Zulassung für Aducanumab bei der FDA beantragen möchte. Eine neue Datenanalyse, die auf einem größeren Datensatz aus beiden oben genannten Phase-3-Studien (EMERGE und ENGAGE) beruht, habe ergeben, dass sich die mit dem Antikörper behandelten Patienten im Verlauf der EMERGE-Studie signifikant weniger verschlechterten als die Plazebogruppe. Der Effekt war in der ENGAGE-Studie trotz identischen Studiendesigns nicht signifikant, was von Biogen bislang so erklärt wird, dass in ENGAGE zu dem Zeitpunkt, als ein Studien-Amendment eine höhere Dosis erlaubte, die Patientenrekrutierung schon weiter vorangeschritten war, so dass insgesamt weniger Patienten die jetzt erlaubte Höchstdosis erhielten.
In EMERGE zeigte sich ein signifikanter Behandlungseffekt sowohl hinsichtlich des primären Endpunktes der Studie (Clinical Dementia Rating, CDR) als auch hinsichtlich verschiedener sekundärer Endpunkte, die sowohl kognitive Funktionen als auch Alltagsfunktionen abbilden.
Statistisch signifikant waren die Effekte in der mit der höheren Dosis behandelten Patientengruppe. Die Patienten befinden sich in der Frühphase der Alzheimer-Erkrankung.
Biogen erklärt den Unterschied in der aktuellen Analyse gegenüber der Zwischenanalyse, die zum Studienabbruch führte, im Kern damit, dass einerseits die Gesamtzahl von Patienten höher war als in der Zwischenanalyse, insbesondere aber damit, dass eine größere Anzahl von Patienten die höhere Dosis über einen längeren Zeitraum erhalten habe. D.h. die Gesamtexposition mit der höheren Dosis war höher.
Nach meiner Einschätzung sind die Daten aus zwei Gründen überzeugend:
1. Der Effekt ist dosisabhängig
2. Der Effekt der Behandlung zeigt sich sowohl hinsichtlich verschiedener kognitiver Funktionen als auch in den sogenannten Alltagsaktivitäten.
Ergänzen sollte man hier, dass klassische Alltagsaktivitäten wie die Erledigung von Bankgeschäften, Kochen oder handwerkliche Tätigkeiten natürlich auf der Intaktheit kognitiver Funktionen beruhen. Man kann ihre Messung jedoch nicht so einfach operationalisieren wie bei kognitiven Funktionen, etwa dem Gedächtnis, da sie auf einem komplexen Zusammenspiel ganz verschiedener kognitiver Funktionen beruhen. Besonders aber die Tatsache, dass die vorliegende Behandlung Alltagsfunktionen beeinflusst, unterstreicht, dass die gemessenen Effekte echt sind und nicht etwa Messartefakte darstellen.
Eine Zulassung von Aducanumab für die Behandlung der Alzheimer-Erkrankung wäre ein medizinischer Durchbruch größerer Tragweite, vergleichbar der Einführung von Interferon beta-1b für die immunmodulatorische Behandlung der Multiplen Sklerose im Jahr 1993. Es würde der Therapieforschung dieser Erkrankung sicher einen enormen Schub verleihen, wo sich angesichts einer Vielzahl von negativen Studien über die letzten 15 Jahre bereits ein gewisser therapeutischer Nihilismus eingestellt hat.
Aus ökonomischer Sicht ist es bereits ein Erfolg: Die Aktie von Biogen hat innerhalb von Stunden nach der Bekanntgabe der Zulassungsbeantragung den Verlust von 30 Prozent vom März 2019 fast vollständig kompensiert.
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