Elektrische Vernebler sorgen weiter für negative Schlagzeilen: Bei einem Patienten führten Liquids mit Diacetyl zu Komplikationen in der Lunge. Ärzte kennen das Phänomen nur allzu gut von Arbeitern in Popcorn-Fabriken. Sie fordern erneut, das umstrittene Molekül zu verbieten.
Die Kontroverse um E-Zigaretten gewinnt an Fahrt. Überraschenderweise geht es dieses Mal nicht um Nikotin. Jetzt sorgen Zusatzstoffe für medizinisches Aufsehen. Liquids, sprich Lösungen zur Verdampfung, bestehen aus Propylenglycol (Lebensmittelzusatzstoff E 1520), Glycerin (Lebensmittelzusatzstoff E 422) und Wasser. Um jugendliche Konsumenten zu begeistern, lassen sich die Hersteller nicht lumpen. Sie bringen „süße“ Geschmacksrichtungen wie „Zuckerwatte“, „Fruit Squirt“, „Popcorn“, „Cupcake“, „Nougat“ oder „Eierlikör“ in den Handel. Rund 7.000 unterschiedliche Aromen umfasst das kaum mehr überblickbare Sortiment.
Jetzt nahm Joseph G. Allen, Forscher an der Harvard T.H. Chan School of Public Health in Boston, Inhaltsstoffe unter die Lupe. Für seine Studie erwarb er 51 E-Zigaretten von führenden US-Herstellern. Allen simulierte die Verhältnisse beim Konsum per Luftstrom mit einer geschlossenen Kammer. Im Fokus seiner Arbeit standen Carbonylverbindungen wie Diacetyl, Acetoin beziehungsweise 2,3-Pentandion. Mindestens eines der umstrittenen Moleküle war in 47 Produkten nachweisbar. So tauchte Diacetyl in 39 Proben auf; die maximale Menge lag bei 239 Mikrogramm pro Zigarette. Der Forscher fand 2,3-Pentandion oder Acetoin in 23 beziehungsweise 46 E-Glimmstängeln. Hier lag der Maximalwert bei 64 beziehungsweise 529 Mikrogramm pro Zigarette. „Aufgrund der Zusammenhänge zwischen Diacetyl, Bronchiolitis obliterans und anderen schweren Erkrankungen der Atemwege bei Arbeitern werden dringend Maßnahmen empfohlen, diese potenziell weitverbreitete Exposition über aromatisierte E-Zigaretten zu bewerten“, fordert Joseph G. Allen. Ein Jahr zuvor hatte Konstantinos E. Farsalinos, Arzt am griechischen Onassis Cardiac Surgery Center, Kallithea, ähnliche Zahlen veröffentlicht. Er sprach von der Möglichkeit, Diacetyl zu eliminieren, ohne Aromen zu beeinträchtigen. Hersteller nahmen seinen Rat augenscheinlich nicht an. Die Zeche zahlen Konsumenten, wie erste Veröffentlichungen zeigen.
Graham Atkins und Frank Drescher vom Dartmouth-Hitchcock Medical Center in Lebanon (US-Bundesstaat New Hampshire) berichten von einem ungewöhnlichen Fall. Ihr Patient, ein 60-jähriger Mann, stellte sich mit Schüttelfrost, Husten und Atembeschwerden vor. Radiologisch zeigten sich keine Auffälligkeiten. Kollegen verordneten Ceftriaxon plus Azithromycin, und der Spuk war bald darauf vorbei. Einen Monat später wiederholte sich die Szenerie. Dieses Mal war der Patient stark hypoxisch. Im Lungen-CT fanden Ärzte Infiltrate unklaren Ursprungs. Einige Zeit später kam die heiße Spur. Der Mann konsumierte zwar regelmäßig Zigaretten, deren Rauch ebenfalls Diacetyl enthält. An beiden Tagen vor der Aufnahme hatte er jedoch zu stark aromatisierte E-Zigaretten mit Diacetyl gegriffen. Atkins und Drescher halten eine Bronchiolitis obliterans als Diagnose für wahrscheinlich und raten, auf E-Zigaretten zu verzichten. Konstantinos Farsalinos von der Universität Patras äußert in seinem Blog Zweifel an der Diagnose. Er vermutet eher eine exogen-allergische Alveolitis (Hypersensitivitätspneumonitis). Dabei sei einschränkend erwähnt, dass Farsalinos für Forschungsprojekte regelmäßig Gelder der E-Zigaretten-Industrie erhält. Dass Diacetyl langfristig zu Lungenschäden führt, steht außer Frage.
Dazu ein Beispiel aus den USA. Vor drei Jahren ging Wayne Watsons Schicksal durch die Medien. Er war vernarrt in Popcorn aus der Mikrowelle – kaum ein Tag verging ohne das leckere Naschwerk. Über Jahre hinweg atmete er bei der Zubereitung Diacetyl ein. Dieser flüchtige Zusatzstoff garantiert leckeres Butteraroma. Watsons Lungenfunktion verschlechterte sich unmerklich, bis Pneumologen eine Bronchiolitis obliterans diagnostizierten. Jetzt ist der 61-jährige Mann chronisch krank, aber um 7,2 Millionen US-Dollar reicher. Diese Summe mussten ein Hersteller und ein Supermarkt berappen, weil auf ihren Verpackungen entsprechende Warnhinweise fehlten. Laut Angaben der National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH) gab es bereits vor 15 Jahren Anhaltspunkte, dass Diacetyl zu starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann.
Ursprünglich ging es um Arbeiter in Popcorn-Fabriken, die lange Zeit synthetischen Aromen ausgesetzt waren („Popcorn Workers Lung“). Ob Diacetyl tatsächlich – wie in einer älteren Studie vermutet [Paywall] – Amyloid-beta-Aggregationen fördert und mit Morbus Alzheimer in Verbindung steht, ist bei Wissenschaftlern umstritten. Doch der pneumologische Aspekt lieferte ausreichende Anhaltspunkte für Gerichte. Sie verurteilten Konzerne zu Zahlungen von insgesamt 100 Millionen Dollar an Betroffene. Im Jahr 2007 folgte der „Popcorn Workers Lung Disease Prevention Act“. Seither muss die amerikanische Arbeitsschutzbehörde verbindliche Standards für den Umgang mit Diacetyl festlegen und durchsetzen. Trotzdem bleibt Diacetyl in den USA zugelassen – nicht nur als Zusatz von Popcorn, sondern auch als Bestandteil von Liquids für E-Zigaretten. Europa stellt keine Ausnahme dar. Die European Food Safety Authority (EFSA) beschränkt sich momentan auf „wait and see“.