Neue Strategien gegen Osteoporose, gegen Allergien oder gegen Rezidive beim Ovarialkarzinom: Diese Highlights bewerten klinisch tätige Ärzte als wichtigste Innovationen im Jahr 2020.
Monat für Monat werden etliche Arzneimittel neu zugelassen. Sie müssen sich an Vergleichstherapien messen und klinische Studien werden publiziert. Doch welche Ansätze sind wirklich ein Schritt nach vorne? Darüber haben Ärzte und Wissenschaftler der Cleveland Clinic, Ohio, beim 17. Medical Innovation Summit gesprochen.
Dort haben Ärzte eine Liste mit den größten Arzneimittel-Innovationen für das kommende Jahr zusammengestellt. Das Besondere: Es geht um den tatsächlichen Nutzen im Alltag. Denn in vielen Studien sind Unterschiede zwischen zwei Studienarmen zwar statistisch signifikant, aber noch lange nicht klinisch relevant. Es geht viel mehr um den Mehrwert aus praktischer Sicht, etwa bei folgenden fünf Therapien.
In Deutschland leiden 24 Prozent aller Frauen über 50 und 6 Prozent aller Männer über 50 an Osteoporose. An Medikamenten mangelt es nicht – Ärzte verordnen meist Bisphosphonate, Strontiumranelat oder seltener das Parathormon beziehungsweise sein Analogon Teriparatid. Doch nicht alle Patienten sprechen auf die Wirkstoffe an.
Diese Lücke könnte ein neues Biological schließen. Im April hat die FDA Romosozumab (Evenity®) bei Frauen mit einer Osteoporosefraktur in der Vorgeschichte, mit mehreren Risikofaktoren für eine Fraktur oder mit Unverträglichkeit gegen bekannte Arzneistoffe zugelassen. Romosozumab ist ein monoklonaler Antikörper, der Sclerostin blockiert: ein Glykoprotein, das im Knochen den Abbau forciert und die Neubildung hemmt. Der Preis für das Arzneimittel liegt bei 1.825 US-Dollar im Monat.
Basis der Zulassung waren zwei Untersuchungen zur Sicherheit und zur Wirksamkeit. In der ersten Studie senkte eine zwölfmonatige Behandlung mit Romosozumab das Risiko einer neuen Wirbelkörperfraktur im Vergleich zu Placebo um 73 Prozent. Dieser Nutzen blieb im zweiten Jahr bestehen, hier wurde statt Romosozumab oder Placebo jedoch Denosumab oder Placebo verabreicht. In der zweiten Studie reduzierte die zwölfmonatige Behandlung mit Romosozumab gefolgt von zwölf Monaten Alendronat das Risiko einer neuen Wirbelkörperfraktur um 50 Prozent im Vergleich zu zwei Jahren Alendronat. Gleichzeitig ging das Risiko für kardiovaskuläre Todesfälle in der Romosozumab/Alendronat-Studie, aber nicht in der Romosozumab/Placebo-Studie, nach oben.
Diese Tatsache bereitete der Europäischen Arzneimittelagentur EMA Kopfzerbrechen. Ende Juni gab der der zuständige Ausschuss für Humanarzneimittel deshalb ein negatives Votum für den Antikörper ab. Nach einer zusätzlichen Bewertung gab es grünes Licht. Vom Hersteller werden jedoch weitere Daten gefordert.
Fazit: Führen die bekannten Erst- und Zweitlinientherapien bei Osteoporose nicht zum Erfolg, könnte Romosozumab eine Option sein. Ob der Wirkstoff in der Erstlinie zum Einsatz kommen wird, erscheint zumindest anfangs fraglich. Denn Osteoporose tritt meist in höherem Alter auf. Diese Patienten haben ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko und Romosozumab könnte die Gefahr weiter vergrößern. Neue Studien sind nach der Zulassung unbedingt erforderlich.
Im nächsten Highlight geht es ebenfalls um eine weit verbreitete Erkrankung, nämlich um Allergien gegen Erdnüsse. Sie verstecken sich in vielen Lebensmitteln, was zu gefährlichen Reaktionen bis hin zur Anaphylaxie führen kann.
Doch Hilfe naht: Ein FDA-Expertengremium hat empfohlen, Palforzia® als orale Immuntherapie auf den Markt zu bringen. Auch der EMA liegen Anträge vor. Zielgruppe sind Patienten mit schwerer Erdnussallergie. Sie erhalten Kapseln mit hochreinem Erdnussprotein; die Dosis wird langsam gesteigert. Laut einer Phase-3-Studie, an der 551 Personen mit starker Erdnussallergie teilgenommen hatten führte die Exposition mit immer größeren Mengen zu einer steigenden Toleranz. 496 der Studienteilnehmer waren zwischen 4 und 17 Jahren alt. Nach 28 Wochen, dem eigentlichen Studienende, schloss sich eine Folgestudie für weitere 28 Wochen an. Schließlich tolerierten 79,8 Prozent der Teilnehmer Einzeldosen von 1.000 mg Erdnussprotein und 49 Prozent sogar 2.000 mg. Das entspricht dem Äquivalent von ein bis zwei ganzen Erdnüssen.
Fazit: Betroffene werden trotzdem keine größeren Mengen vertragen, denn Palforzia® ist kein Heilmittel. Allergiker sind aber beim versehentlichen Konsum relativ sicher. Ihre Notfallmedikamente sollten sie trotzdem griffbereit haben.
Auch neue Therapie gegen hohe LDL-Cholesterinwerte im Blut bewerten Ärzte aus Cleveland als innovativ. LDL-Cholesterin gehört neben arterieller Hypertonie, Typ-2-Diabetes, Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel zu den typischen Risikofaktoren der koronaren Herzkrankheit. Die europäische Leitlinie rät bei hohen LDL-Cholesterinwerten vorrangig zu Statinen. Bei Unverträglichkeit bleiben Ezetimib, Gallensäurebinder oder Cholesterin-Resorptionshemmer als Option. Trotzdem gelingt es nicht, alle Patienten auf die empfohlenen Zielwerte einzustellen.
Bempedosäure könnte dieser Gruppe helfen. Aus dem Prodrug entsteht in der Leber die aktive Form. Sie hemmt die ATP-Citrat-Lyase, ein Enzym der Fettsäure-Biosynthese.
Eine Phase-3-Studie mit 2.230 Hochrisiko-Patienten verglich den Wirkstoff mit Placebo. Nach 12 Wochen verringerte sich der LDL-Cholesterinwert verglichen mit Placebo um 19.2 mg/dl (-18,1 Prozent im Vergleich zu Placebo). Schwere, sicherheitsrelevante Nebenwirkungen traten nicht auf. Basierend auf den Daten wurden Zulassungsanträge bei der EMA und bei der FDA eingereicht.
Fazit: Bempedosäure wird sicher keine Erstlinienwirkstoffe wie die Statine mit gut untersuchtem profil ersetzen, könnte aber bei therapierefraktären Patienten künftig eine Rolle spielen.
Auch beim Ovarialkarzinom tut sich viel. Mehrere Studien bewerten den Nutzen von PARP-Inhibitoren, einer neuen Gruppe von Arzneistoffen. Sie hemmen das Enzym Poly-ADP-Ribose-Polymerase (PARP). Maligne Zellen, die aufgrund einer Chemotherapie bereits Schaden genommen haben, können ihre Reparaturmechanismen nicht mehr ankurbeln. Deshalb eignen sich PARP-Inhibitoren vorrangig für die Erhaltungstherapie.
Fazit: PARP-Inhibitoren gelten bei Onkologen als großer Durchbruch, um häufig auftretende Rezidive des Ovarialkarzinoms zu therapieren. Offen bleibt, wie sich einzelne Wirkstoffe dieser Klasse unterscheiden – und ob sich auch Vorteile beim Gesamtüberleben zeigen.
Auch bei seltenen Erkrankungen tut sich viel, berichten die Ärzte aus Cleveland weiter. Die transthyretinassoziierte familiäre Amyloid-Kardiomyopathie gehört zu den Amyloidosen: Aufgrund von Veränderungen an verschiedenen Genorten entsteht im Körper ein fehlgefaltetes Protein, das verklumpt.
Ablagerungen treten besonders oft im Herzen auf, was zu Atemnot, Müdigkeit, Herzinsuffizienz, Bewusstlosigkeit, Herzrhythmusstörungen und zum frühen Tod führen kann. Auch das periphere bzw. zentrale Nervensystem, die Nieren, die Augen und der Magen-Darm-Trakt werden in Mitleidenschaft gezogen.
Zur Therapie kardialer Ablagerungen wurden von der FDA Tafamidis-Meglumin (Vyndaqel®) und Tafamidis (Vyndamax®) Anfang Mai zugelassen. Die Entscheidung basiert auf einer klinischen Studie an 441 Patienten, die randomisiert Tafamidis Meglumin oder ein Placebo erhalten hatten. Nach durchschnittlich 30 Monaten war die Überlebensrate in der Verum-Gruppe signifikant höher als in der Placebo-Gruppe. Es wurde auch gezeigt, dass Tafamidis die Anzahl der Krankenhauseinweisungen durch Herz-Kreislauf-Probleme reduziert. Schwere Nebenwirkungen traten nicht auf. Allerdings kann Tafamidis fötale Schäden verursachen. Patientinnen benötigen deshalb eine sichere Kontrazeption. Ältere Daten aus 2011, die zur europäischen Zulassung geführt hatten, reichten der US-Behörde nicht aus.
Fazit: Erstmals gibt es überhaupt Möglichkeiten, die Amyloid-Kardiomyopathie zu therapieren. Insofern war die Skepsis der FDA übertrieben. Für eine seltene Erkrankung 441 Patienten zu finden, ist eine Leistung.
Die Zusammenstellung hat einen Reiz: Ärzte aus der Klinik melden sich zu Wort. Sie haben echte Patienten vor sich, beispielsweise mit Komorbiditäten. Klinische Studien entsprechen nur in den seltensten Fällen der späteren Realität, weil je nach Design viele Personen ausgeschlossen werden. Vielleicht sollte man viel öfter auf die Praktiker hören.
Deshalb eine Frage an euch: Was sind eure medizinischen Highlights 2020? Antwortet dazu gern in den Kommentaren.
Bildquelle: Bruno Kelzer, unsplash