Eigentlich wollte ich zur Hochzeit einer Freundin gehen. Doch dann kam was dazwischen: eine Beule unterm Rippenbogen. In der Notaufnahme untersuchte mich ein Arzt. Er wurde immer ruhiger. Es war die Ruhe vor dem Sturm.
Zugegeben, Mütter machen immer gleich Panik: „Du musst sofort ins Krankenhaus, sofort!“ Mein Sohn hatte sein Medizinstudium damals zwar noch nicht abgeschlossen, machte aber einen auf jungen Arzt und gab mir ebenfalls klare Anweisungen in einem entschiedenen festen Ton, den ich so nicht von ihm kannte: „Ab ins Krankenhaus, keine Minute verlieren!“
Beiden hatten ich zuvor berichtet, wie mies es mir ging und dass ich so eine unschöne dicke Beule unterm Rippenbogen fühlte. Es war Nikolaus 2015 und ich wollte eigentlich zur Hochzeit einer Freundin. Aber diese komische Beule unterm rechten Rippenbogen machte mir doch etwas Sorgen. Seit einem halben Jahr dazu noch starker Leistungsabfall (logo, bin wohl wegen meiner Lauferei übertrainiert), immenser Gewichtsverlust (Stress im Job, was sonst) und heftiges, nächtliches Schwitzen (klar, die Wechseljahre). Man findet ja immer Begründungen für dies und das. Dennoch, ich ließ mir einen Termin bei meiner Hausärztin geben, nachdem die Gynäkologin einen ausgewogenen Hormonhaushalt festgestellt hatte: Keine Wechseljahresbeschwerden, eindeutig nicht.
Nach der Auswertung meiner Blutwerte, Leberwerte ziemlich erhöht, Thrombozyten ziemlich niedrig, 70.000, kam meine Hausärztin zu folgendem Schluss: „Na, liebe Nella, Sie trinken wohl etwas zu viel Alkohol in letzter Zeit.“
Ich darauf: „Nicht mehr und nicht weniger als sonst und als die meisten.“ Sie lächelte mich nur an. Sie glaubte mir eindeutig nicht. Außerdem stellte sie die Vermutung an, es könne sich um eine Eisenspeicherkrankheit handeln und machte einen Termin beim Hepatologen im Januar 2016 aus. Also eigentlich alles im Griff. Dachte ich. Aber falsch. Nun, um es vorweg zu nehmen und zu unterstreichen, wie viel ich von der fachlichen Kompetenz meiner damaligen Hausärztin halte: Ich hätte den Termin beim Hepatologen nicht mehr lebend erreicht.
Dramatischer Leistungsabfall, hoher Gewichtsverlust und übermäßiger nächtlicher Schweiß deuten eindeutig in Richtung Krebs – so steht es in jedem ärztlichen Lehrbuch unter dem Stichwort „B-Symptomatik“. Vor allem, wenn dann auch noch eine Verdopplung der üblichen Milzgröße zu ertasten ist. Vorausgesetzt natürlich, sie hätte diese einfache diagnostische Methode überhaupt in Erwägung gezogen. Denn auch das hatte sie versäumt.
Mein Sohn sagte später mal, das wäre eigentlich medizinisches Grundwissen des vierten Semesters. Warum meine Ärztin nicht drauf kam, weiß ich bis heute nicht. Egal, vergossene Milch – und Hadern bindet nur Kräfte, die man an anderer Stelle braucht. In der Zwischenzeit hatten mich weitere zumindest stutzigmachende Nachrichten über andere Einschätzungen dieser Ärztin erreicht. Ich wohne zwar in einer Großstadt, aber mein Kiez ist wie ein Dorf.
Ich wollte mich also in die Notaufnahme begeben. „Beruhigt euch. Die werden mir schon sagen, was mit mir los ist. Aber erst einmal mache ich mich noch etwas zurecht“, sagte ich.
„Wie?“, sagte mein Mann „du willst jetzt erst mal duschen?“ Ungläubiges Kopfschütteln, gar Entsetzen begleitete seine Frage. Als ich dann noch meine Pediküre, inklusive des Auftragens meines Lieblingsnagellacks machte, verstand er die Welt nicht mehr. Aber irgendwie hatte ich so ein ganz ungutes, undefinierbares Gefühl und habe wahrscheinlich eine Art Übersprunghandlung vorgenommen, um den Druck aus der Situation zu nehmen.
In der Notaufnahme angekommen und unterm Ultraschall liegend, entging mir nicht, dass der Arzt, Typ Christoph Maria Herbst, in der Notfallambulanz immer ruhiger wurde. So eine Ruhe, die sehr bedrohlich wirkte. Also die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. „Wir behalten Sie erst mal hier. Das muss abgeklärt werden. Das dauert etwas länger.“
Diese Sätze hallen heute noch nach. Denn natürlich dachte ich, „länger“ würde maximal ein bis zwei Tage bedeuten, vielleicht eine Woche. Dass daraus bald vier Jahre wurden, hatte man mir nicht gesagt. Die Beule war eine sogenannte Raumforderung eines Lymphoms.
Vor meiner Krebserkrankung war ich ziemlich aktiv und hatte reichlich Bälle in der Luft. Beruflich wie privat. Ende März 2015 war ich noch Halbmarathon gelaufen und hatte im Mai am Frauenlauf teilgenommen, mein Trainingspensum lag bei ca. 30–40 km Laufstrecke pro Woche. Dazu habe ich Flamenco getanzt, bin regelmäßig Rad gefahren und habe mich mit Hanteltraining fit gehalten. Auch beruflich lief alles top. Ich hatte Aussicht auf einen großen Karrieresprung. Man kann also wirklich sagen, es hatte mich in vollem Lauf erwischt.
Als ich am 7.12.2015 die Diagnose Non-Hodgkin-Lymphom bekam, war das für alle ein großer Schock. Ich weiß noch genau, dass ich den Oberarzt, der mir offenbarte, dass wir es bei mir entweder mit einer Leukämie oder einem Non-Hodgkin-Lymphom zu tun hätten, gefragt habe, ob es sich da nicht um einen Irrtum handele. Er meine doch nicht wirklich mich, sondern die Patientin auf dem Flur. „Das ist doch sicher eine Verwechselung“, hörte ich mich sagen. Dicke Tränen kullerten über mein Gesicht. Ich war fassungslos.
Mein Mann sagte in dieser Zeit einmal „Jeder Tag fühlt sich an wie eine Woche. Es ist einfach unmenschlich, was wir alle durchmachen. Das Tempo der Erkenntnisse ist schneller, als der Verstand es erfassen kann.“
Denn jeder Tag brachte neue Hiobsbotschaften, neue Ergebnisse prasselten an einigen Tagen im Stundentakt auf uns ein. Wir waren schier atemlos. Ganz am Anfang hieß es: Ja, die Diagnose ist schlimm, und ja, das dauert etwas länger, aber diese Krebsart sei zu 95 Prozent heilbar, das werde schon. Die Therapie sei sehr anstrengend, aber am Ende stünde die Heilung. Aus einer früheren beruflichen Projektarbeit wusste ich, wie man eine solche Zahl zu nehmen hat: Nicht die einzelne Krankheit wird zu 95 Prozent geheilt, sondern die Gesamtheit aller Fälle wird zu 95 Prozent geheilt. Und was nutzt dir die Statistik, wenn du zu den 5 Prozent gehörst? Außerdem – so eine der vielen beruhigenden Nachrichten – gebe es da einen Antikörper, der wäre ein wahres Zaubermittel. „Keine Sorge Nella, in einem Jahr bist du wieder auf der Piste.“ So dachte ich, so dachten alle, so war der Plan.
Der therapeutische Ritt durch die folgenden Monate war wirklich nicht sonderlich spaßig, aber auszuhalten. Hatte ich doch durch mein sportliches Vorleben eine gute Konstitution und die Nebenwirkungen der Chemo waren nicht so heftig wie bei manch anderem. Zu Gute kam mir auch mein unerschütterlicher Optimismus und mein ausgeprägter Humor, der Hang den Dingen immer mit einer gewissen Leichtigkeit zu begegnen. Ich bin nun mal eine echte Kämpfernatur. Das hatte ich schon öfter unter Beweis gestellt. Außerdem hielt ich mich natürlich an der Aussage fest: „Dein Krebs ist gut heilbar, liebe Nella.“
Ja, Pustekuchen. Nix war. Nach sechs Monaten und acht Zyklen mit intensiver Chemotherapie stand gefühlt die ganze Station mit ernsten Gesichtern an meinem Bett. So viele Ärzte wie eine Handballmannschaft. Ich ahnte nichts Gutes. Meine böse Vorahnung sollte sich leider bestätigen. Der Chefarzt holte tief Luft und überbrachte mir die Botschaft des sogenannten Therapieversagens. Ich hatte das Wort vorher noch nie in dieser Zusammensetzung gehört, ein wahres Fallbeil.
Wham, das saß! Alle waren tief betroffen. Mir wurde heiß und mein Blut dröhnte in meinen Ohren. Ich hörte mit aufgerissenen Augen den Ausführungen meines sehr geschätzten Chefarztes zu, der selbst ratlos und gleichzeitig wütend über diesen Verlauf war. Er redete wie um sein Leben. Hatte er doch schon mehr Pfeile abgeschossen, als der Standard hergab, und trotzdem dieses niederschmetternde Ergebnis.
Mein „Sausack“, wie ich ihn nenne, war immun gegen die Chemotherapie. Nach einem langen Vortrag über die möglichen nächsten Schritte und Behandlungsmethoden war klar, Heilung war nicht in Sicht. Das Gute daran war, dass ich genau dieses fatale Fazit, dieses Todesurteil einfach komplett ausgeblendet habe. Ich habe es schlichtweg nicht gehört, ignoriert und nicht an mich herangelassen. Ich denke, das war mein Glück. Sonst hätte ich nicht so viel Kraft für die vor mir liegende Zeit gehabt.
Dann, ein Hoffnungsstreif am Horizont, die Aussicht auf die Teilnahme an einer lebensrettenden Studie, der sogenannten CAR-T-Studie. Aber nach einem aufwendigen Check und zahlreichen Voruntersuchungen in Köln kam die Absage, ich und meine Zellen passten nicht ins Schema. Der nächste Schock. Erneut ein heftiger Tiefschlag für mich und meine Familie. Dennoch hatte ich die Hoffnung nicht verloren und darauf vertraut, dass die Ärzte schon etwas finden werden, was mir hilft.
Und so war es auch. Endlich. Ende Oktober 2016 wurde eine ganz neue Karte gezogen, mehr oder weniger inoffiziell und abseits der üblichen Wege starteten die Ärzte mit einer neuen Immuntherapie und dem Mut der Verzweiflung einen letzten Versuch. Die Grundlage bildete der Antikörper Nivolumab. Mein behandelnder Oberarzt sagte mir damals eindringlich: „Wir befinden uns jetzt im experimentellen Bereich. Sie sind sozusagen Ihre eigene Studie. Es gibt niemanden, der uns bekannt ist, der auf diese Weise behandelt wird. Aber wir glauben an Sie, auch wegen Ihrer so unerschütterlichen positiven, kämpferischen Haltung. Wir lassen jetzt die Bluthunde von der Kette und mobilisieren ihre T-Zellen, die im Dornröschenschlaf liegen.“ So viele Bilder, aber sie helfen. Ich fand meine Bluthunde gleich sehr liebenswert.
Die Erfolgswahrscheinlichkeit dieser Therapie lag damals bei 10 Prozent. Da war mehr Hoffnung denn Erwartung. Und – oh Wunder – genau diese Therapie, dieses medizinische Wagnis führte zum Erfolg. Die Ergebnisse waren super. Alles war weg. Alle waren total besoffen vor Glück. Niemand hätte auch nur einen Pfifferling darauf gewettet, dass das funktioniert. Nur ich war immer davon überzeugt, dass ich irgendwie wieder aus dieser Scheiße rauskomme. Ich weiß auch nicht, woher ich diese Zuversicht genommen habe, aber es war so tief in mir verwurzelt und am Ende sollte ich ja auch Recht behalten.
Nach diesem „Wunder“ – das war die eindeutige Einschätzung der Ärzte – war dann die Bühne frei für eine Fremd-Stammzellenspende. Vorher war das rein medizinisch nicht realisierbar, meine Blutwerte waren viel zu schlecht. Ich hätte sie nicht überlebt. Aber jetzt standen die Chancen gut, so die Ärzte.
Stammzelltransplantation. Grusel. Genau das wollte ich nie. Ich hatte mächtige Angst vor dieser Therapie, ich hatte viele Horrorgeschichten von Mitpatienten gehört, die in Foren unterwegs waren. Anmerkung meinerseits an dieser Stelle: Solche Plattformen sollte man meiden! Da ist sicher viel Wahres, drin, aber jede Erkrankung ist anders, hat eine andere Vorgeschichte, andere Verläufe. Nichts ist vergleichbar oder besser: Schilderungen können maximal eine Annäherung sein und machen mehr Angst als alles andere. Außerdem, Erfolgsgeschichten finden hier kaum Platz.
Die Suche nach einem passenden Spender wurde schnell eingeleitet und dann kam die Nachricht: Ja, wir haben sogar zwei mögliche Spender gefunden. Zwei mir völlig unbekannte Menschen hatten eine genetische Übereinstimmung von 100 Prozent. Beide hatten sich typisieren lassen. Völlig selbstlos. Unfassbar. Selbst ich hatte mich – als ich noch gesund war – nicht mit dieser Option beschäftigt. Dass aber mein Spender die Sache durchgezogen hatte, ist echtes Glück für mich und habe ich eigentlich auch erst jetzt – zwei Jahre danach so richtig verstanden. Einfach unbeschreiblich, denn es kommt leider nicht selten vor, dass man niemanden findet. Oder im letzten Moment abspringt, auch das kommt leider vor.
Am 23. Juni 2017 wurden mir so gegen 15 Uhr die neuen Stammzellen per Infusion in der Uniklinik Münster verabreicht. Gott sei Dank liefen die fast vier Wochen in der Isolation für mich sehr störungsfrei und komplikationslos ab. Ich war zwar recht schwach, aber sonst alles paletti. Erst danach kamen reichlich Graft-versus-Host-Reaktionen (GvH-D). Gesetzt war: Das Spendersystem sollte und musste gewinnen. Am schlimmsten war meine Lunge betroffen. Aber die GvH-Reaktionen bedeuten ja auch, dass das Spendersystem dem Krebs Paroli bietet und es nicht mehr zum Vorschein kommen lässt. Es funktioniert eben, ganz im Gegensatz zu meinem.
Aber alles das ist inzwischen überstanden. Heute weiß ich, dass ich damals schon über meine Ressourcen hinaus gelebt habe, mir viel zu viel zugemutet habe. Darauf werde ich in Zukunft mehr achten. Das habe ich mir geschworen. Und außerdem bin ich das dem Spender ja auch irgendwie schuldig.
Dieser Beitrag gehört zu dem Blog „Zellenkarussell. Mit der Krankheit dreht sich das Leben plötzlich schneller“.
Bildquelle: Chloé Lam, Unsplash