Was zählt mehr: die Gruppe oder die eigenen Bedürfnisse? Vielleicht ist das eine Frage der Generation. So kollidieren in unserer Landarztpraxis öfter mal Neulinge mit erfahrenen Ärzten.
Wir sind eine Lehrpraxis, in der auch immer mal wieder Studierende ihre Blockpraktika, Famulaturen oder ihr PJ machen. Außerdem haben wir gelegentlich Interessenten für den Beruf der Medizinischen Fachangestellten (MFA). Gleichzeitig sind mehrere unserer MFAs bereits seit über 25 Jahren in der Praxis und dementsprechend ein „eingespieltes Team“.
Ich finde das als Ärztin ziemlich gut, weil ich genau weiß, dass ich mich auf diese MFAs blind verlassen kann. Die wissen genau, wie was zu machen ist und ja, sie sind auch jeweils auf dem neuesten Stand. Außerdem berücksichtigen sie meine persönlichen Wünsche, wie etwa, dass ich explizit dokumentiert haben möchte, wenn der Pat. kein Fieber hat, damit ich weiß, dass das gefragt wurde. Klar lief das nicht alles sofort, aber ich fand schon ziemlich zügig.
In letzter Zeit gab es aber auch mal Spannungen zwischen den alteingesessenen MFAs und z.B. manchen Praktikanten. Vor allem in Bezug auf die Arbeitsweise. Ich möchte diesen Konflikt mal aus meiner Sicht schildern und hoffe, dass ich beide Seiten dabei richtig darstelle. Natürlich ist mir klar, dass sich dieser Konflikt nicht unbedingt verallgemeinern lässt und es „Die Generation“ allenfalls im statistischen Mittel gibt. Und sicher gibt es jeweils auch einiges an Gegenbeispielen. Trotzdem ist es mir aufgefallen, so dass ich zur Sprache bringen möchte. Vielleicht fühlt sich der eine oder andere angesprochen und schreibt auch was dazu in den Kommentaren.
Insgesamt hat sich meiner Meinung nach gesellschaftlich der Fokus weg verschoben von der Allgemeinheit hin zum Individuum. Früher wurde einfach gar nicht gefragt, wie es jemandem individuell bei einer gewissen Entscheidung geht. Man ging einfach davon aus, dass alle das Beste für die Gemeinschaft (oder für die anderen?) wollen und auch bereit sind, dafür zurückzustecken.
Das hat sich auch in der Medizin so eingebürgert. Fast alle älteren Kollegen, mit denen ich gesprochen habe, erzählen von unzähligen Überstunden, die aber nirgendwo aufgetaucht sind. „Das war einfach so.“ Und natürlich wurde davon ausgegangen, dass man alles seinem Beruf unterordnet. Auch das Privatleben. Davon können sicherlich auch viele Familien von damals berichten. „Papa, warum kümmerst du dich denn immer nur um andere Leute, wenn es denen schlecht geht - und nicht um deine Kinder?"
Deshalb entschieden sich viele Kollegen, mit denen ich gesprochen habe, auch für eine Niederlassung: Man war zumindest ein bisschen mehr „sein eigener Herr“ und konnte so planen, wie man das selbst wollte.
Heutzutage wird den Kindern von klein auf beigebracht, auf sich selbst und die eigenen Bedürfnisse zu achten. In Kindergarten und Schule sollen die Kinder „dort abgeholt werden, wo sie sind“. Deswegen lernen viele Kinder sehr früh, sich abzugrenzen und sind auch sehr klar darin, ihre Bedürfnisse zu sehen und einzufordern.
Ich hab als Mutter und Ärztin manchmal das Gefühl, dass dies eine Art Gegenbewegung zu dem oben beschriebenen ist und leider manchmal auch über das Ziel hinausschießt. Früher gab es Leute, die sich bis zur Selbstaufgabe aufgeopfert haben, was sicherlich auch nicht das Ziel sein kann. Aber meiner Erfahrung nach führt diese starke Fokussierung auf die eigenen Bedürfnisse bei manchen Jugendlichen dazu, dass sie a) nur noch selten üben, ihre Bedürfnisse zurückzustellen, was manchmal die Abstimmung in einer Gruppe schwierig bis unmöglich macht und b) manchmal auch der Meinung sind, dass sie diese Bedürfnisse befriedigen müssen, weil sie sonst Schaden nehmen würden.
Nochmal zur Betonung: Diese Aussagen sind Eindrücke im Querschnitt und treffen sicherlich nicht auf jeden Einzelnen zu. Auch früher gab es Leute, die sehr stark auf ihre eigenen Bedürfnisse geachtet haben und auch heute gibt es aufopferungsvolle Leute, die die Gruppe über alles stellen. Ich beschreibe hier nur Eindrücke, die ich subjektiv immer häufiger beobachte.
Im Job treffen dann diese beiden Einstellungen aufeinander: „Gruppe über alles“ vs. „Eigene Bedürfnisse zuerst“. Und dann knallt es schon mal. Denn die ältere Generation findet es absolut unerhört, dass die jüngere Generation „alles mögliche fordert, aber sich nicht einbringt“, während die Jüngeren das Gefühl haben „sich selbst aufgeben zu müssen, aber dafür nicht ausreichend gewürdigt zu werden“.
Häufige Konflikt-Anlässe sind zum Beispiel Dienstplanbesprechungen. Ich habe vor kurzem gehört, dass in meinem alten Krankenhaus die Dienste wieder vom Oberarzt eingeteilt werden, weil die Assistenten sich in den Besprechungen nicht einigen konnten und damit Dienste erstmal unbesetzt im Plan standen. Klar gibt es Abteilungen, die höllisch unterbesetzt sind und da muss etwas getan werden, aber dass eine Abteilung mit mehr als 20 Ärzten Dienste nicht besetzt bekommt, kann eigentlich nicht sein.
Ich fühle mich bei diesen Diskussionen hin und her gerissen: Einerseits sehe ich natürlich unsere Patienten mit ihren Leiden und ja, als Arzt geht man halt auch manchmal an die eigenen emotionalen Grenzen, um den Patienten zu helfen. Indem man zum Beispiel ihre Geschichte anhört. (Gutes Beispiel dafür ist dieser Blogbeitrag „Ich bin ein Sack“). Und auch, indem man ihnen beisteht, manchmal bis zum Lebensende. Die körperlichen Grenzen sind für Ärzte ebenfalls ein Thema: Regelmäßige (Nacht-)Dienste mit viel zu wenig Schlaf und unregelmäßiges Essen. Unsere Patienten brauchen uns eben. Und wenn wir uns für einen medizinischen Beruf entscheiden, müssen wir dieser Verantwortung auch Rechnung tragen.
Andererseits sehe ich aber auch, wie das heutige Gesundheitssystem die Ärzte in einem wahnsinnigen Tempo verschleißt – oftmals durch unmenschliche Arbeitsbedingungen. Gerade die Arbeitsdichte hat extrem zugenommen. Das Ziel der Kliniken heißt dann: 10% mehr Patientenfälle pro Jahr, kürzere Aufenthaltsdauern und vieles mehr. Gerade Aufnahme und Entlassung machen ja am meisten Arbeit, vor allem beim Papierkram. Hinzu kommt immer mehr Wissen auch um unsinnige Diagnostik und Therapien, die vor allem mehr Geld einbringen, aber nicht immer zum Nutzen des Patienten sind. Die emotionalen Auswirkungen hat z.B. der Narkosedoc in diesem Beitrag gut beschrieben.
Das sollen die Kollegen alles einfach so wegstecken? Trotz Schlafmangel und oft unbezahlter Überstunden? Und mit einem Freundeskreis, der immer kleiner wird, weil man andauernd Termine absagt oder zu spät kommt oder zu müde ist oder nur noch vom Job redet. Für diejenigen, die jetzt wieder mit Geld argumentieren: Geld mag ein Motivator am Anfang sein, aber es hilft gar nichts, wenn man das Gefühl hat, nur noch im Hamsterrad zu rennen und keinen Punkt sieht, an dem es besser wird. Bei der Zeitschrift Geo gab es vor kurzem einen Artikel darüber, dass dieser Mangel an Hoffnung auf eine Besserung ein großer Risikofaktor für die Entstehung eines Burnouts sein kann.
Vielleicht erklärt das auch die ständig wachsende Zahl von psychischen Erkrankungen bei medizinischem Personal? Die Hoffnungslosigkeit, dass es eben nicht wieder besser wird?
Andererseits empfinde ich viele Studenten und Praktikanten auch als sehr passiv, wenn mal was nicht so läuft, wie gewünscht. Ein Beispiel: Natürlich möchte ich gerne, dass Studenten bei uns viel praktisch machen. Anamnese erheben, körperlich untersuchen und so weiter. Dafür muss aber eine gewisse theoretische Basis da sein. Wenn z.B. eine Anamnese erhoben werden soll, muss man dafür schon eine gewisse Vorstellung davon haben, was für welches Krankheitsbild wichtig ist. Und da ich als Hausarzt oft nicht vorher weiß, mit welchem Symptom meine Patienten kommen, kann ich auch nicht gut vorselektieren.
Was aber mache ich als Arzt, wenn ich bei einem Studenten das Gefühl habe, dass nicht genug theoretisches Wissen vorhanden ist, um überhaupt erstmal eine Anamnese zu erheben? Und ich dann sehe, dass nachmittags noch nicht mal was nachgelesen wird, damit man vielleicht am nächsten Tag zu dem Thema mehr weiß? Mein Gefühl ist, dass manche Studenten dann erwarten, dass wir ihnen alles beibringen. Aber das schaffe ich einfach nicht in der kurzen Zeit.
Der normale Praxisalltag läuft ja weiter und ein Blockpraktikum dauert max. zwei Wochen á vier Tage. Wer ein gewisses Grundwissen mitbringt oder sich jeweils in die Themen einarbeitet, kann einfach mehr machen, als wenn ich erstmal die erste Woche nur damit verbringe, die Basics zu erklären.
Aber wie bringt man jemandem Eigen-Engagement bei? Ich kann immer nur wieder dazu ermuntern, Fragen zu stellen, aber wenn da nichts kommt, kann ich es nicht eintrichtern. Und ehrlich gesagt will ich das auch nicht. Das führt nur zu Frust auf beiden Seiten.
Aber woher kommt diese Passivität? Ist sie auch Ausdruck der oben beschriebenen Hoffnungslosigkeit? Dem Gefühl, dass man eh nichts ändern kann und es deswegen auch nichts bringt, nochmal nachzulesen? Ist das etwas, das wir im Studium vermitteln? Oder war das schon vorher da? Und vor allem: Wie können wir den Studenten das Gefühl geben, dass sie etwas ändern können? Dass es sich lohnt, an seine Grenze zu gehen.
Die aktuelle Situation ist nicht gut. Anstatt dass man in Zeiten knapper Ressourcen gemeinsam an einem Strang zieht, geht noch zusätzliche Energie in Team-Konflikten verloren. Und keine Generation schafft es allein. Medizin ist Gemeinschaftsarbeit.
Bildquelle: Meghan Schiereck/Unsplash