Um das Leben von Patienten nach einem Herzstillstand zu retten, versetzen Ärzte sie in eine Art Winterschlaf. Jetzt gehen Forscher einen Schritt weiter: Sie kühlen Schwerverletzte vor der OP extrem ab und erwecken sie anschließend wieder zum Leben.
Jeder kennt das Vorbild aus der Natur. Tiere fahren ihren Stoffwechsel wegen Nahrungsmangel oder Kälte extrem herunter. So machen es zum Beispiel Bären, Eichhörnchen und Igel. Forscher nennen diesen Zustand Torpor – ein Leben auf Sparflamme. Je nach Tierart kann dieser Zustand zwischen einigen Stunden und mehreren Monaten anhalten. Dabei sinkt die Körpertemperatur drastisch ab, das Herz schlägt nur noch ein paar Mal in der Minute und die Atmung ist verlangsamt. Damit sinkt auch der Sauerstoffverbrauch.
„Für die Raumfahrt ist Torpor in der Tat interessant. So könnten Astronauten auf langen Reisen zum Mars mit weniger Nahrung und Sauerstoff auskommen“, sagt Dr. Daniel Aeschbach. Er ist Leiter der Abteilung Schlaf und Humanfaktoren am Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Köln. „Aber auch für die Medizin ergeben sich hier spannende Ansätze. Doch wie man diesen Zustand künstlich induzieren könnte, weiß man noch nicht. Immerhin ist der Mensch nicht dafür gemacht, Winterschlaf zu halten.“
„Aber“, so Dr. Aeschbach weiter, „es gibt extreme Fälle von Unterkühlung beim Menschen, die physiologisch dem Torpor ähneln.“ Das habe allerdings weniger mit Torpor im klassischen Sinne zu tun. „Torpor ist ein natürlicher, ziemlich komplexer Prozess, der wohl durch viele verschiedene Faktoren reguliert wird“, sagt der Schlafforscher. „Hypothermie beim Menschen wird künstlich erzeugt.“
Die fast unglaubliche Geschichte der Anna Bågenholm legte sogar den Grundstein für therapeutische Hypothermie. Im Jahr 1999 war die Schwedin beim Skilaufen mit zwei Kollegen in einen gefrorenen Bach gestürzt, aus dem sie sich nicht mehr selbst befreien konnte. Ein Bergrettungsteam konnte sie erst nach knapp eineinhalb Stunden aus dem Eiswasser bergen – allem Anschein nach war die Frau klinisch tot. Ihre Körpertemperatur war auf 14,4 °C abgesunken, sie hatte weder einen spürbaren Puls, noch atmete sie.
Doch obwohl Bågenholms Herz nicht mehr schlug, gaben die Ärzte in der Klinik ihr noch eine minimale Überlebenschance. In dieser Gegend hatten sie schließlich schon Erfahrung mit extremer Unterkühlung. Es galt schon damals der Leitsatz: „Nobody is dead until he is warm and dead.“ So leiteten die Ärzte umfangreiche intesivmedizinische Maßnahmen ein. Inzwischen lag Bågenholms Körpertemperatur bei nur noch 13,7 °C. Die Ärzte leiteten das Blut der Patientin über einen Bypass aus, erwärmten es außerhalb des Körpers, reicherten es mit Sauerstoff an und führten das Blut wieder zurück. Dadurch erwärmte sich ihr Körper langsam und ihr Herz begann wieder zu schlagen. Fünf Monate nach ihrem Unfall konnte sie das Krankenhaus ohne bleibende Schäden verlassen.
„Eine gute kardiopulmonale Reanimation kann bis zu 30-40% der Durchblutung des Gehirns bewirken und in diesen Fällen reicht das oft aus, um die Person manchmal sieben Stunden am Leben zu halten, während wir versuchen, das Herz neu zu starten", erklärt Mads Gilbert gegenüber The Guardian. Der Notfallmediziner leitete damals die Reanimationsmaßnahmen. Die Begleiter und auch das herbeigerufene Rettungsteam handelten demnach genau richtig. Sie begannen sofort mit der Reanimation, erwärmten ihren Körper aber nicht aktiv.
Anna Bågenholm überlebte, weil ihre inneren Organe schnell heruntergekühlt wurden bevor es zum Herzstillstand kam. Dadurch braucht der Körper, insbesondere das Gehirn, weniger Sauerstoff. Wenn die lebenswichtigen Organe vor dem Herzstillstand ausreichend abgekühlt sind, wird der unvermeidliche Zelltod durch mangelnde Durchblutung verschoben.
Die Geschichte von Bågenholm ist kein Einzelfall: Der Japaner Mitsutaka Uchikoshi war im Frühjahr 2006 beim Wandern in den Bergen gestürzt und brach sich die Hüfte. Erst 24 Tage später wurde er von Bergsteigern gefunden. Zu dem Zeitpunkt war seine Körpertemperatur auf 22 °C abgesunken, er hatte kaum spürbaren Puls und litt an multiplem Organversagen. Doch im Krankenhaus erholte sich der Patient vollständig.
Wie er so lange überleben konnte ist rätselhaft. Immerhin fiel die Temperatur in den Nächten auf bis zu 10 Grad ab. Ob die Körpertemperatur des Mannes schon sehr schnell gesunken ist, oder ob der Mann im Sterben lag als er gefunden wurde, bleibt aber unklar. Er selbst erzählte in der Klinik, er könne sich nur noch an den zweiten Tag nach seinem Sturz erinnern und muss dann eingeschlafen sein.
„In der Medizin macht man sich das Prinzip der Hypothermie schon zu Nutze“, erklärt Dr. Aeschbach. Bewusstlose Patienten, die nach einem Herzstillstand infolge Kammerflimmern erfolgreich reanimiert wurden, sollen für 12 bis 24 Stunden auf 32 bis 34 °C Körperkerntemperatur abgekühlt werden. Damit wird einer hypoxischen Gewebeschädigung vor allem des Gehirns vorgebeugt. Auch bei herzchirurgischen Eingriffen gehört die therapeutiche Hypothermie schon zur Routine. Zunehmend werden sie auch bei ischämischen Schlaganfällen eingesetzt, zählen dort aber noch zu den experimentellen Verfahren, ebenso wie bei erhöhtem Hirndruck.
Noch weiter geht ein Forscherteam aus Maryland. Das Magazin New Scientist berichtet, das Team habe Menschen erstmals in eine Art „Scheintod“ („suspended animation“) versetzt. Die Forscher nennen ihre Technik „emergency preservation and resuscitation“ (EPR). Dabei wird der Körper eines schwerverletzten Patienten auf 10 bis 15 °C heruntergekühlt, indem das Blut fast komplett durch eiskalte Kochsalzlösung ersetzt wird. Dadurch kommt die Hirnaktivität zum Erliegen und Ärzte haben zwei Stunden Zeit, den Patienten zu behandeln. Danach wird der Körper wieder erwärmt und der Patient wiederbelebt. Noch sind die Ergebnisse nicht veröffentlicht, doch die FDA hat schon ihr Go für weitere Versuche gegeben.
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