In der psychiatrischen Aufnahme sitzt Herr Kleindünn. Wahnhafte Depression bekannt, jetzt wegen starker Bauchschmerzen hier. Er hat Angst. „Alles stirbt ab“, erklärt er mir verzweifelt.
Herr Kleindünn, ein Mann mittleren Alters, kam in Begleitung seiner Mutter eines späten Nachmittags in die psychiatrische Aufnahme. Eine wahnhafte Depression sei bekannt, vor ein paar Jahren bereits diagnostiziert. Nun war es so, dass Herr Kleindünn nicht mehr essen wollte. Er habe auch stärkste Bauchschmerzen. Während er dies erzählte, saß er ruhig auf dem Stuhl, sein Gesicht angstverzerrt.
Meine internistische Glaskugel weiß: So sitzt kein Patient auf dem Stuhl, der wirklich starke Bauchschmerzen hat. Der Grund für die Schmerzen offenbarte sich jedoch schnell: Es sterbe alles ab. In einigen Stunden sei er tot, das wisse er ganz sicher. In 8 Stunden, um genau zu sein. Der Druck auf meinen internistischen Sachverstand wächst. Mesenterialischämie?
Der Patient sagte, es wurden schon viele Magenspiegelungen gemacht. Und Darmspiegelung. Und CT auch. Es war alles okay, aber er sterbe sicher. 8 Stunden. Seine Uhr tickte, mein Druck ließ allmählich nach.
Denn der Bauch des Patienten war vollkommen weich, unauffällig. Herr Kleindünn war liebenswürdig, sehr leidend, ängstlich, weinend. Alles ziehe sich zusammen, alles sterbe ab. Von der Speiseröhre bis zum Darm. Wie könne man denn essen, wenn es keinen Magen mehr gibt, fragte er mich.
Laborchemisch zeigten sich keine Auffälligkeiten. In der Ultraschalluntersuchung des Abdomens zeigte sich auch nichts Ungewöhnliches – sämtliche Organe vorhanden. Der Patient war zunächst darüber sehr glücklich. Aber 8 Stunden waren ja auch noch nicht rum!
Herr Kleindünn wünschte eine erneute Magenspiegelung. Und ein CT des Abdomen. Eine Verlegung zur erneuten somatischen Abklärung hielten wir in Zusammenschau der Befunde nicht für indiziert. Herr Kleindünn türmte – und wir riefen die Polizei zur Fahndung.
In der Zwischenzeit versuchten wir, Herrn Kleindünn telefonisch zu erreichen, mit Erfolg. Wir sollen uns keine Sorgen machen, er gehe nun in die nächste internistische Notaufnahme, um ein CT zu erhalten und eine Magenspiegelung. Es müsse ihm dort geholfen werden, die Psychiatrie sei nicht der richtige Ort. Es sterbe alles ab, er habe nicht mehr viel Zeit. „Lebt wohl!“
Aus meiner langjährigen Erfahrung in internistischen Notaufnahmen weiß ich, dass natürlich, und so ist es auch lege artis, eine somatische Ursache jeglicher angegebener körperlicher Beschwerden zunächst ausgeschlossen werden muss, bevor an psychiatrische Erkrankungen gedacht werden sollte. Und so kann es passieren, dass ein Patient im Rahmen eines Wahns unzählige Untersuchungen bekommt, bevor an eine psychiatrische Ursache gedacht wird. Gerne auch doppelt und dreifach. Zu vermeiden wäre dies z.B durch Kontaktaufnahme zum Hausarzt und Anforderung von Vorbefunden. Nachts im Dienst ist das nicht immer möglich, eine genaue klinische Beurteilung und Korrelation mit Laborwerten sind notwendig, um sich nicht zu unnötiger Diagnostik hinreißen zu lassen – insbesondere in einem Ärztezeitalter, das von der ständigen Sorge geprägt ist, verklagt zu werden.
Ca. 12 h später wurde Herr Kleindünn reumütig zurückgebracht. Die Organe seien immer noch am Absterben, es verzögere sich jetzt alles eben.
Es wurde der therapeutische Versuch mit oralen Antipsychotika begonnen, der Patient lehnte dies jedoch ab. Letztendlich und nach unzähligen Tagen der Qual im Rahmen dieses sogenannten Nihilismuswahns (Cotard-Syndrom) wurde per gerichtlichen Beschluss eine parenterale Zwangsmedikation durchgeführt. Die Symptomatik linderte sich, die Ängstlichkeit ließ nach, die Vorstellung des unmittelbar bevorstehenden Todes und Organabsterbens verschwand. Der Patient konnte deutlich beruhigt nach Hause entlassen werden – wie lange er die notwendigen Medikamente einnehmen wird, steht in den Sternen. Der Verlauf der Erstdiagnose einer paranoiden Schizophrenie auch.
Ungefähr einen Monat später wurde der Patient mit gleichen psychischen Beschwerden wieder in der Psychiatrie vorstellig. Bereits nach der ersten Entlassung drängte er ambulant wieder auf eine internistischer Abklärung der erneut absterbenden Organe.
Anmerkung der Redaktion: Mit dieser Kasuistik hat die Bloggerin an unserem DocCheck-Wettbewerb Mein kniffligster Fall teilgenommen. Weitere Patientenfälle werden in den nächsten Wochen in unserem Newsletter und auf diesem Kanal veröffentlicht.
Bildquelle: Bailey Heedick, unsplash