Signalmoleküle der Wnt-Familie koordinieren den Reifungsprozess der Spermienzellen bei deren Passage durch den Nebenhoden. Doch der für die embryonale Entwicklung und die Krankheitsentstehung bedeutende Wnt-Signalweg wirkt auf Spermatozoen anders als bisher bekannt.
Wnt formt die Grundlagen der Gestalt aller Organismen und steuert darüber hinaus zahlreiche weitere Entwicklungsprozesse des Körpers. Überaktive Wnt-Signale dagegen fördern die Krebsentstehung. Wnt bindet an Rezeptoren auf der Zelloberfläche und übt seine „klassischen“ Funktionen über eine äußerst komplexe Kaskade von Proteinwechselwirkungen im Zellinneren aus. Am Ende dieses innerzellulären Signalwegs werden im Zellkern bestimmte Gene abgelesen – das bekannte Wnt-Signal fördert die Transkription.
„Wir haben uns immer gefragt, ob Wnt auch Funktionen im Körper steuern kann, ohne dass Gene aktiviert und abgelesen werden“, sagt Christof Niehrs, vom Deutschen Krebsforschungszentrum. Niehrs und Mitarbeiter hatten kürzlich erste Hinweise darauf gefunden, dass der Wnt-Signalweg – unabhängig von seinem Einfluss auf die Transkription – Proteine vor dem Abbau schützt. Dadurch können Zellen an Größe zulegen und sich auf die Zellteilung vorbereiten. Allerdings ist eine Transkriptions-unabhängige Funktion von Wnt extrem schwierig sicher zu beweisen: Zu stark und vielfältig ist der Einfluss des Signalmoleküls auf die Genaktivität. So entdeckten die Wissenschaftler männliche Samenzellen als ideales Studienobjekt für diese Fragestellung: Spermien fehlen die biologischen Voraussetzungen für die Transkription, in den Samenzellen werden keinerlei Gene abgelesen. Sollte Wnt tatsächlich eine Wirkung auf die männlichen Geschlechtszellen haben, so müsste diese auf andere Weise zustande kommen. Spermien reifen bei ihrer Passage durch den Nebenhoden – erst dort erlangen sie ihre Beweglichkeit und werden befruchtungsfähig. Einen der geheimnisvollen Faktoren hinter diesem Reifungsprozess konnte Niehrs‘ Gruppe nun an Mäusen identifizieren. Eine Spermium des Menschen: Der aktive Wnt-Rezeptor ist grün gefärbt, der Zellkern blau. © Stefan Koch, DKFZ
Von Zellen des Nebenhodens abgegebenes Wnt sorgt für die essentielle Beweglichkeit und für entscheidende Änderungen der Proteineigenschaften in den Samenzellen. Dabei verläuft das Wnt-Signal im Inneren der Spermien über die üblichen, bekannten „Schaltstationen“ – beeinflusst am Ende aber andere Zielmoleküle. Männliche Mäuse, denen ein neu entdeckter wichtiger Aktivator des klassischen Wnt-Signalwegs fehlt, sind steril, ihre Spermien missgebildet und unbeweglich. „Mit den Ergebnissen konnten wir wissenschaftlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“, sagt Niehrs. „Erstens haben wir [...] belegt, dass der klassische Wnt-Signalweg Körperfunktionen steuert, ohne dazu die Transkription anzukurbeln. Und [zweitens] wir kennen nun den entscheidenden Faktor, der das Reifungsprogramm der Spermien koordiniert.“ „Wnt hat offensichtlich einen erheblichen Einfluss auf die männliche Fruchtbarkeit. Wirkstoffe, die den Wnt-Signalweg blockieren oder aktivieren, werden teilweise bereits in klinischen Studien für andere Zulassungen geprüft. Sie könnten möglichweise auch bei Fruchtbarkeitsstörungen oder aber bei der Verhütung wirksam sein“, so Erstautor Stefan Koch. Originalpublikation: Post-transcriptional Wnt signaling governs epididymal sperm maturation. Stefan Koch et al.; Cell, doi: 10.1016/j.cell.2015.10.029; 2015