Auch im Gefängnis gibt es Patienten – und Ärzte, die sie behandeln. Was läuft für Mediziner im Knast anders?
Viele sagen, sie seien da „irgendwie hineingeraten.“ Die Rede ist vom Arztsein in der JVA, der Justizvollzugsanstalt. Worin unterscheidet sich der Job von der ärztlichen Tätigkeit in einer gewöhnlichen Klinik? Die DocCheck News haben darüber mit einer Anstaltsärztin gesprochen.
In Deutschland gibt es fast 200 Justizvollzugsanstalten und in jeder arbeiten Mediziner, die für die Versorgung der Insassen zuständig sind. Wie Anstaltsärzte ihr eigenes Berufsbild wahrnehmen, ist sehr unterschiedlich. „Im Gesundheitsministerium gibt es keine Abteilung für Gefängnismedizin, im Justizministerium auch nicht“, beklagt etwa Vortragender Prof. Jürgen Pont aus Wien auf den Gefängnismedizin-Tagen in Frankfurt. Dort treffen sich jährlich Ärzte, Pflegekräfte und Suchtberater, die in ihrem Beruf täglich mit Insassen zu tun haben. Zwar wurde die Gefängnismedizin nun erstmals von der Bundesdrogenbeauftragten erwähnt, doch bundesweit wird ihr aus Ponts Sicht noch viel zu wenig Aufmerksamkeit zuteil. Er kritisiert, dass Gefangene nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung integriert sind oder auch, dass Insassen keine freie Arztwahl haben. Auch die Föderalismusreform im Jahr 2006, bei der die Verantwortung vom Bund auf die Länder überging, mache die Situation nicht einfacher. „Es gab viele Reformideen“, so Pont, „aber umgesetzt wurden sie nicht“.
Nicht alle Anwesenden wollen auf dem Kongress über Missstände reden. „Die Versorgung drinnen ist deutlich besser als draußen“, meldet sich jemand aus dem Publikum zu Wort und bekommt dafür viel Applaus. „Ich weiß, wo meine Patienten in Behandlung waren, ich kann mich ihnen widmen und erfahre mehr, als ich je von Patienten draußen erfahren würde.“ Obwohl immer wieder im Laufe der Veranstaltung von drinnen und draußen die Rede ist, lehnen einige Vortragende genau diese Unterscheidung ab, weil es das Grabendenken fördere. Stattdessen betonen sie, wie wichtig das Äquivalenzprinzip sei. Dabei handelt es sich um folgenden Vorsatz: Die medizinische Versorgung im Strafvollzug muss qualitativ und quantitativ der Versorgung „draußen“ entsprechen. Äquivalenz heißt aber nicht Gleichheit sondern Gleichwertigkeit, wie der referierende Jurist Dr. Wolfgang Lesting betont.
Es gibt Abweichungen, sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten der Gefangenen. Während der Haft ruht der Anspruch auf Krankenversicherung, denn der Staat übernimmt die Kosten der medizinischen Versorgung. Auch besondere Leistungen, die eine soziale Reintegration verbessern, werden für den Patienten übernommen. Dazu gehören beispielsweise Tattooentfernungen oder eine prothetische Versorgung. Häufiger ist das System allerdings zulasten des Häftlings. Das Prinzip greift erst ab einer gewissen Aufenthaltsdauer, damit nicht „jemand kurz ins Gefängnis geht, um sich das Gebiss richten zu lassen“, erklärt Lesting in seinem Vortrag. „In der Regel gehen Gefangene hochverschuldet aus dem Gefängnis ins Leben zurück“, so der Jurist.
Das sieht Anstaltsärztin Dr. Heike Schütt im Gespräch mit den DocCheck News anders. „Inhaftierte gehen nicht in der Regel ‚hochverschuldet‘ aus der Haft. In der Anstalt besteht für die Gefangenen die Möglichkeit, Geld zu verdienen.“ Ein Teil davon werde als Überbrückungsgeld für die erste Zeit nach der Haftentlassung auf einem gesonderten Konto angespart. In manchen Fällen – vor allem bei kurzen Haftzeiten lasse sich allerdings eine Überschuldung aus der Haft heraus nicht auflösen. „Das sind dann leider schwierige Einzelfälle“, erklärt Schütt und fasst noch einmal die Details zusammen:
So viel zu den Insassen. Doch wie ist es als Arzt, in einem Gefängnis zu arbeiten? „Mit unserem durch amerikanische Filme geprägten Bild von Gefängnis hat das Leben hier nichts zu tun“, stellt Schütt klar. Viele Jahre war die Allgemeinmedizinerin mit der Zusatzbezeichnung Suchtmedizin in der JVA Düsseldorf tätig. Seit Sommer 2018 versorgt sie 530 männliche Häftlinge in der JVA Essen. „Es war eigentlich ein Zufall, dass ich im Knast gelandet bin“, berichtet die Ärztin. „Aber die Arbeit hat mich gepackt und nicht mehr losgelassen.“
Alle Häftlinge werden von der Allgemeinmedizinerin und ihrem Team aus Vertragsärzten und Kranken- und Gesundheitspflegern sowie Medizinischen Fachangestellten zu Beginn der Haft medizinisch untersucht. Sowohl die Allgemein- als auch die Selbstverträglichkeit in psychischer und körperlicher Hinsicht muss geprüft werden. „Gerade in den Wintermonaten leiden z.B. Neuankömmlinge oft unter Krätze und werden somit zur Vermeidung weiterer Ansteckung zunächst nicht gemeinsam mit anderen Inhaftierten untergebracht“, erzählt Schütt.
Vorher war Schütt fast 15 Jahre als Vertretungsärztin in verschiedenen Hausarztpraxen tätig. Verglichen mit ihrem alten Job sieht die Ärztin in der Gefängnismedizin viele Vorteile. „Hier muss ich mich nicht mit Budgets, der KV, Quartalszwängen und ständig wechselnden Bestimmungen rumärgern. Natürlich habe ich immer einen Blick auf die medizinischen Kosten, denn auch hier gilt das Gebot der Wirtschaftlichkeit.“ Auch so etwas wie Nachtschichten gibt es im Gefängnis nicht.
Ein weiterer Unterschied: Neben den üblichen Krankheitsbildern einer allgemeinmedizinischen Praxis habe sie es häufig mit drogen- und alkoholabhängigen Patienten zu tun. Auch die Zahl der psychiatrisch Erkrankten sei statistisch höher als vor den Mauern. Besonders bei diesen Krankheitsbildern ist es für den Arzt von Vorteil, mit dem Patienten in regelmäßigem Kontakt zu bleiben, erklärt Schütt: „Ich empfinde die Haft oft auch als Chance für meine Patienten. Sie können sich nicht so schnell der Behandlung entziehen, wenn erste kleine Differenzen auftauchen. Ich denke, dass wir oft deutlich lebensverlängernd wirken.“
Der Arzt sei für Insassen einer der wenigen Ansprechpartner, die durch Schweigepflicht gebunden sind, wie ansonsten beispielsweise auch der Pfarrer und andere Seelsorger. Außerdem biete der Haftalltag wenig Abwechslung. „Man darf auch nicht vergessen, dass man als Arzt in gewisser Weise Teil des Unterhaltungsprogramms für die Patienten ist“, gibt die Anstaltsärztin zu bedenken. „Wie draußen auch ist das Wartezimmer eine Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen.“ In diesem Zusammenhang macht die Anstaltsärztin auf eine typische Problematik in der JVA aufmerksam: Manche Gefangene erhoffen sich vom Arzt auch Vergünstigungen. Neben Hafterleichterungen, wie zusätzliche Freistunden oder Kostzulagen, kann der Arzt natürlich auch Medikamente verordnen. „Hier ist es manchmal schwierig, die Spreu vom Weizen zu trennen. Nicht jeder benötigt wirklich selber ein Medikament, sondern benutzt es als Handelsware.“
Und dann ist da noch ein ganz bedeutender Unterschied zur ärztlichen Tätigkeit in der Klinik oder einer regulären Hausarztpraxis: Man hat es mit Kriminellen zu tun. Wie es sich als Ärztin anfühlt, täglich Männer zu behandeln, denen Straftaten wie Kindesmissbrauch oder Mord vorgeworfen werden? „In erster Linie ist mir die Gesundheit meiner Patienten wichtig. Ich vermeide es zu Beginn unserer Arzt-Patienten-Beziehung eher, die Details der vorgeworfenen Tat herauszufinden, da ich mich selber vor Voreingenommenheit schützen will“, sagt Schütt. Das gelte allerdings nicht für psychisch labile Personen. „Für die Suizidprophylaxe kann es wichtig sein, genauer Bescheid zu wissen, Gewalttäter sind hier erheblich gefährdeter als die anderen.“ Hier arbeitet die Ärztin eng mit dem Psychologischen Dienst zusammen.
Oft werde Schütt gefragt, ob sie sich denn sicher vor Angriffen fühle in einem Gebäude voller Verbrecher. „Mittlerweile behaupte ich oft, dass es keinen Ort gibt, an dem ich mich sicherer fühle als an meinem Arbeitsplatz“, erwidert die Ärztin, die mit einem Notfallpiepser an der Hüfte ausgestattet ist.
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