Sitzen ist das neue Rauchen. Das heißt: Wir sollten es weniger tun. Was bedeutet das für unser Berufsleben?
Mittlerweile ist es eine Volksweisheit, die sich im Mainstream etabliert hat und somit auch bei vielen Patienten angekommen ist: Sitzen ist das neue Rauchen. Ob man raucht oder nicht, muss jede Person selbst entscheiden. Beim Sitzen ist die Lage schon etwas komplizierter. Man muss sitzen – in der Schule, im Büro, im Auto. Es geht eher darum, dafür zu sorgen, dass man nicht zu viel beziehungsweise zu lange sitzt. Dabei sollte man den Spielraum, der einem zur Verfügung steht, auch nutzen. Dieser ist bei manchen größer als bei anderen.
„Sitzen ist das neue Rauchen. Das ist ein interessanter Vergleich“, findet Dr. Dominik Pförringer im Gespräch mit DocCheck News. „Denn das Sitzen schadet ähnlich wie das Rauchen jedem Menschen in unterschiedlicher Form und unterschiedlicher Dosis“, argumentiert der als Orthopäde und Unfallchirurg tätige Arzt. Und weiter: „Es gibt Kettenraucher, die weit über 90 Jahre alt werden, prominentestes Beispiel ist sicherlich Altkanzler Schmidt. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die bereits nach kürzester Zeit heftige Reaktionen und Schäden entwickeln. Dies hängt von der persönlichen Prädisposition ebenso wie von der individuellen Ausprägung des schädlichen Verhaltens ab. Das Sitzen ist nur eins von vielen Problemen der heutigen Zeit.“
Eine Tatsache ist unumstritten: Wenn Rauchen auch manchen weniger schadet als anderen – schädlich ist es in jedem Fall. Und so ist es laut Untersuchungen auch mit dem langen Sitzen. Es soll das Risiko für zahlreiche Erkrankungen erhöhen – unabhängig davon, ob jemand ausreichend Sport treibt. So erhöht Dauersitzen einer großangelegten Studie aus dem Jahr 2010 zufolge die Sterblichkeit. Darüber hinaus steigt das Risiko für eine ganze Reihe von Erkrankungen, wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Krebs.
Auf die Frage, warum Sitzen denn überhaupt so problematisch ist, antwortet Pförringer: „Sitzen an sich ist keine physiologische Haltung. Es ist für die Wirbelsäule sowie für die untere Extremität eine völlig unnatürliche Haltung und damit auch nicht ideal. Da es sich um eine statische Tätigkeit handelt, führt sie zu relativ einseitiger Belastung der Wirbelsäule und damit rasch zum Ermüden der sie stützenden Muskelgruppen. Die Bandscheiben leben vom Wechsel zwischen Be- und Entlastung, der im Sitzen ebenfalls nicht gegeben ist.“ Hinzu komme, dass die meisten von uns „schlecht“ sitzen. Das heißt, auf ungeeignetem Sitzmobiliar und in ungeeigneter Haltung.
„Moderne Geräte wie Smartphones oder Tablets und auch der gute alte Computer animieren uns dazu, schlecht zu sitzen, da sie eine nach vorne gebückte Haltung fördern. Diese führt zu einer ungünstigen Statik und somit zu einer unphysiologischen Gewichtsverteilung auf der Wirbelsäule“, so der Orthopäde. Um richtig zu sitzen, muss der Körper gut gestützt werden. Das erreicht man durch eine starke Muskulatur. „Leider trainieren die meisten Menschen aber falsch. Es wird primär auf die Bauchmuskulatur fokussiert und nicht auf die Rückenmuskulatur, was per se zu einer Fehlhaltung führt, da trainierte Muskeln dazu tendieren, sich zu verkürzen“, ergänzt Pförringer. Das Ziel muss also sein: Weniger sitzen und wenn, dann richtig.
Am leichtesten lässt sich das viele und lange Sitzen in der Freizeit verhindern. Statt sich mit dem besten Freund in einer Bar zu treffen, lässt sich das Bier auch beim Spazieren trinken. Die Lieblingsserie kann man entweder sitzend auf der Couch verfolgen oder man macht währenddessen ein Training. Aber auch vor dem Feierabend sitzen Kinder stundenlang in der Schule und viele Erwachsene sehr lange am Stück vorm Schreibtisch im Büro. Wie schafft man es hier, gegenzuwirken? Erst einmal gibt es eine Reihe konventioneller Büro-Tipps, wie man täglich zu ein paar zusätzlichen Minuten Bewegung kommt. Dazu gehören die klassischen Dehnübungen für zwischendurch, das regelmäßige Wechseln der Sitzposition und periodisches Aufstehen.
„Wenn wir von Piloten, Berufskraftfahrern oder Menschen, die Maschinen im Sitzen bedienen, absehen, so können die meisten von uns aufstehen und intermittierend anderen Dingen nachgehen. Auf dem Weg zum Meeting kann man sich dehnen. Statt in der Mittagspause erneut zu sitzen, kann man im Stehen an der frischen Luft Obst zu sich nehmen. Ich selbst überwinde pro Tag Dutzende Stockwerke, um meine persönliche Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. All diese Möglichkeiten stehen praktisch jedem Menschen offen und es liegt am Einzelnen, dafür die Verantwortung zu übernehmen“, ist sich der Unfallchirurg und Orthopäde sicher. Als gesunder Mensch ständig in einen Lift zu steigen, anstatt die Treppe zu nehmen, hält Pförringer für „absolut hirnfrei und übertrieben.“
Doch es gibt noch viele weitere innovative Lösungsansätze. In Großbritannien gelang es durch eine Initiative, flächendeckend die Daily Mile einzuführen (wir berichteten). Ein Mal täglich joggen Schüler 15 Minuten am Stück – während der Unterrichtszeit. Über 10.000 Schulen nehmen mittlerweile am Programm teil, davon befinden sich 8.117 im Vereinigten Königreich. Auch in der Arbeitswelt gibt es neue Möglichkeiten: Vom firmeninternen Fitnessstudio über arbeitgeberfinanzierte Sportprogramme oder flexible Arbeitszeiten, die es erlauben, tagsüber einmal eine Stunde laufen zu gehen.
Diabetologe Hauke Groth mit einem Patienten. Bildquelle: Groth
Spannend ist auch das Konzept von Hauke Groth, über das wir vor einigen Monaten berichteten: Der Internist und Diabetologe hat in seiner Praxis ein Laufband stehen und bietet eine Sprechstunde im Gehen an. Das Tempo bestimmen die Läufer dabei selbst, denn das Band wird nur durch Körperkraft angetrieben und braucht keinen Motor. Davon abgesehen nutzt Groth das Laufband natürlich auch selbst. Arztbriefe und DMP-Dokumentationen mache er praktisch nur noch im Gehen, so der Diabetologe.
So vielversprechend diese Ideen erstmal scheinen, die Umsetzung gestaltet sich schwierig bis unmöglich. Auf der Website des Projekts Daily Mile lässt sich nachvollziehen, wer am Programm teilnimmt. 72 Nationen machen bei der Aktion mit, auch Deutschland – allerdings sind es nur überschaubare 23 Schulen, während zum Beispiel in Belgien 1.154 Schulen die Daily Mile eingeführt haben, in den Niederlanden sind es immerhin 419 Schulen. Noch problematischer ist die Umsetzung beim Laufband. Wenn ein Arzt es sich in seine eigene Praxis stellt, ist das die eine Sache. Wie sich das Vorhaben in einem Großraumbüro umsetzen lässt, eine völlig andere. Unternehmen, aber auch Versicherungen sind auf mehr Bewegung im Büro noch nicht eingestellt.
Das macht ein weiterer Fall deutlich, über den im Jahr 2016 in einem Trierer Blatt berichtet wurde: Die Direktorin der Trierer Unibibliothek musste Sofa und Laufband aus ihrem Büro entfernen. Das Verwaltungsgericht gab der Uni Recht, Präsident Michael Jäckel setzte die angeordnete Zwangsräumung durch. Der Grund war hier ein anderer: Sportgeräte und Ruhemöbel in einem Dienstzimmer stünden „der effektiven Wahrnehmung der Dienstleistungspflicht und der Pflicht zum vollen persönlichen Einsatz für den Beruf“ entgegen. Während Herr Groth als selbstständiger Arzt schon jetzt täglich seine Kilometer gehen und dabei seine Arbeit verrichten kann, müssen die meisten Angestellten wohl noch eine Weile sitzenbleiben.
In der Zukunft sollte sich in der Arbeitswelt einiges ändern, wenn es nach Pförringer geht. Er findet, dass Menschen auf besser geeignetem Mobiliar sitzen sollten. „Insbesondere Schulen und Kindergärten sollten altersgerechtes Sitzen offerieren, das bedeutet nicht, über viele Körpergrößen hinweg im gleichen Sitzmobiliar. Zudem sollte sich Sitzen mit dem Stehen und Gehen abwechseln und auch dazwischen viel trainiert werden.“
Stattdessen wünscht sich der Arzt sogenannte Incentivierungen (Anreize), die Menschen dazu bringen soll, sich möglichst viel zu bewegen. „Es sollten weitere Projekte wie etwa das von den Krankenkassen propagierte Programm „Mit dem Rad zur Arbeit“ geben. Zudem halte ich es für sinnvoll, wenn wir das Nutzen von Fahrzeugen in Innenstädten maximal besteuern.“ In größeren Städten wünscht sich Pförringer eine „relevant hohe City-Maut, damit diejenigen, die zu faul sind, sich in den Städten durch Museklkraft zu bewegen, in die Solidarkasse einzahlen, um für den von ihnen verursachten volkswirtschaftlichen Schaden gerade zu stehen.“ Des Weiteren fordert er, betriebliche Sportprogramme mehr zu fördern. „Ideal wäre, wenn der Einzelne gezielt darauf hingewiesen wird, was er für sich Gutes tun kann, wie er seine Ernährungs- und Verhaltensweise ändern kann, um Gewicht zu reduzieren und seine Haltung zu verbessern. Positives Verhalten muss belohnt werden.“
Bildquelle: Hal Ozart, unsplash