Das Gehirn nutzt keine zufälligen, sondern vermutlich selbstorganisierte Netzwerke zur visuellen Informationsverarbeitung. Für dieses Ergebnis wurden Hypothesen zufälliger Verschaltungen mit Präzisionsmessungen der Gehirnarchitektur verschiedener Säugetiere verglichen.
„Dass zufällige Verschaltungen in Nervensystemen [...] existieren, haben Neurobiologen vor zwei Jahren im Geruchssystem der Fruchtfliege experimentell gezeigt“ erklärt Manuel Schottdorf, Forscher am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Ob aber das Gehirn von Säugetieren die möglichen Vorteile zufälliger Verschaltungen tatsächlich ausnutzt, oder ob es eher auf selbstorganisierte Nervennetze setzt, war bislang unklar. Das Durcheinander aller neuronalen Verbindungen im Gehirn zu entwirren, ist bisher unmöglich. Daher bediente sich das internationale Team um Schottdorf, einer alternativen Methode: Die Forscher analysierten die Funktionsweise der Schaltkreise in der Sehrinde und zogen daraus Rückschlüsse über deren Aufbau.
Wie Neurobiologen bereits seit längerem wissen, helfen uns Nervenzellen in diesem Teil des Gehirns unter anderem, die Kanten von Objekten zu erkennen. Jede Nervenzelle bevorzugt dabei eine Orientierung von Kanten, auf die sie besonders stark reagiert, beispielsweise senkrechte, waagerechte, oder schräge. Benachbarte Zellen favorisieren meistens ähnliche Kantenorientierungen. Eine Ausnahme bilden Orientierungszentren in denen die bevorzugten Orientierungen der umgebenden Zellen wie die Flügel eines Windrädchens zusammentreffen. Wie viele dieser Zentren existieren und wie sie im Gewebe verteilt sein müssten, wenn die Idee der Zufallsverschaltungen gilt, haben die Wissenschaftler exakt berechnet. Diese Vorhersagen unterschieden sich jedoch von der tatsächlichen Verteilung der Orientierungszentren, wie Präzisionsmessungen offenbarten. Unter anderem beobachteten die Forscher dabei in einem bestimmten Volumen von Nervenzellen weniger Orientierungszentren, als die Berechnungen für zufällige Verknüpfungen ergaben. Zufällige Verschaltungen können die tatsächliche Anordnung der Orientierungszentren im Gehirn also nicht erklären. Modelle, in denen sich die Netzwerke selbstorganisiert formen, können dagegen nicht nur die Anzahl sondern auch die sehr komplexe räumliche Anordnung der Zentren präzise nachbilden.
Die Forscher schließen nicht aus, dass anfangs zufällige Verbindungen vorhanden sein können, wenn sich das Gehirn entwickelt. Durch visuelle Erfahrung und die dynamische Umbildung von Nervenverbindungen reorganisiert sich das Gehirn jedoch so weitgehend, dass von den anfänglichen Verbindungen wohl kaum etwas übrig ist. Zufällig geknüpft? Im Fluoreszenzmikroskop wird das weitgehend zufällige Netzwerk sichtbar, das Nervenzellen in einer Zellkultur bilden. Ob die Nervenzellen im Gehirn zufällig verschaltet werden, hat ein internationales Team um Forscher des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation untersucht. © Manuel Schottdorf, MPI für Dynamik und Selbstorganisation „Die Selbstorganisation der Schaltkreise im Gehirn ist nach unserer Studie die plausibelste Theorie für die Feinstruktur der Schaltkreise des visuellen Systems.“, erklärt Wolfgang Keil. Zu dieser Erkenntnis passt, dass Säugetiere erst nach der Geburt sehen lernen. Für den vollen Durchblick reichen zufällige Netzwerke, wie sie anfangs möglicherweise vorhanden sind, offenbar nicht aus. Originalpublikation: Random wiring, ganglion cell mosaics, and the functional architecture of the visual cortex Manuel Schottdorf et al.; Plos Computational Biology, doi: 10.1371/journal.pcbi.1004602; 2015