Wenn es um die Entscheidung geht, welche Nahrungsmittel sie essen wollen, sind bei Frauen mit Anorexia nervosa dieselben Hirnregionen aktiv wie bei Spielsüchtigen und Substanzabhängigen. Das könnte erklären, wieso es ihnen schwerfällt, ihr maladaptives Essverhalten zu ändern.
Die jüngst in Nature Neuroscience veröffentlichte US-amerikanische Studie umfasste 21 Patientinnen, die zur Behandlung ihrer Anorexia nervosa in ein Krankenhaus aufgenommen worden waren, sowie 21 gesunde Kontrollprobandendinnen. Alle Studienteilnehmerinnen mussten zuerst den Gesundheitswert und den Geschmack von 76 Nahrungsmitteln bewerten. Aufgrund dieser Daten wurden zufällig ein fettarmes und ein fettreiches Referenz-Nahrungsmittel ausgewählt, die zuvor als neutral eingestuft worden waren. Anschließend mussten sich die Frauen zwischen dem Referenz-Nahrungsmittel und einem der anderen entscheiden. Bei diesem Prozess verfolgten die Forscher die Gehirnaktivität der Frauen mittels funktioneller Kernspintomographie (fMRT). Am Tag nach der fMRT-Untersuchung wurde dann ermittelt, wie viele Kalorien die Frauen an einem Buffet aufnahmen, bei dem sie Nahrungsmittel ihrer Wahl essen konnten. Wenig überraschend war, dass Frauen mit Anorexia nervosa sich deutlich seltener für fettreiche Nahrungsmittel entschieden als die Kontrollgruppe. Interessanterweise war diese Entscheidung mit Aktivität im Striatum assoziiert – einer Gehirnregion, die eine Rolle beim Verstärkungslernen (engl. „reinforcement learning“) sowie Handlungsauswahl und -steuerung spielt. Bei den Anorexie-Patientinnen war insbesondere das dorsale Striatum deutlich aktiver als bei der Kontrollgruppe. Diese gesteigerte Aktivität fand sich aber nur in der Entscheidungsphase, nicht dagegen in der Phase der Nahrungsmittelbewertung. Unterschiede gab es außerdem in der Verschaltung zwischen dem dorsalen Striatum und dem dorsolateralen präfrontalen Cortex (dlPFC): Bei gesunden Probandinnen war diese besonders stark, wenn ihnen fettreiche Nahrungsmittel präsentiert wurden. Bei Patientinnen mit Anorexia nervosa konnte das Gegenteil beobachtet werden: Fettarme Nahrungsmittel riefen eine stärkere Verschaltung hervor als fettreiche. Je ausgeprägter die Unterschiede in der Reaktion auf fettarme im Vergleich zu fettreichen Nahrungsmitteln waren, desto weniger Kalorien nahmen die Probandinnen am nächsten Tag zu sich. Dies legt nahe, dass bei einer Anorexia nervosa das dorsale Striatum dem dlPFC quasi seinen Willen aufzwingt.
Dass sich die Gehirnaktivität von Personen mit Anorexia nervosa von der gesunder Personen unterscheidet, ist keine neue Erkenntnis. Frühere Studien haben beispielsweise bereits zeigen können [Paywall], dass bei Anorexie-Patientinnen Unterschiede in neuronalen Schaltkreisen der Grund dafür sind, dass sie weniger stark auf Belohnungen und Hunger als motivierenden Antrieb zum Essen reagieren. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass Unterschiede in der Geschmackswahrnehmung zu einer sensorischen Überstimulation führen und so zum Anorexie-typischen Nahrungsvermeidungsverhalten beitragen. Neu an der nun veröffentlichten Studie ist allerdings, dass Forscher zum ersten Mal den Prozess der Entscheidungsfindung unter die fMRT-Lupe genommen haben. Die in der Veröffentlichung dargestellten Ergebnisse dienen aber nicht allein der Grundlagenforschung zur Pathophysiologie der Anorexia nervosa, sondern sie eröffnen auch konkrete Behandlungsmöglichkeiten für die Praxis. „Wir entwickeln bereits eine neue Intervention für die Psychotherapie, die auf den Prinzipien der Gewohnheitsumkehr beruht und es den Patienten mit Anorexia nervosa ermöglicht, maladaptive Verhaltensweisen zu verändern“, erklärt Dr. Joanna Steinglass, eine der federführenden Autoren. „Während wir unser Verständnis der Hirnmechanismen ausbauen, könnten sich auch neue Wirkansätze für Medikamente herauskristallisieren.“
Schätzungen zufolge sind in Deutschland mehr als 700.000 Menschen an Magersucht erkrankt, etwa jeder Siebte stirbt an den Folgen. Obwohl es sich bei Anorexia nervosa um eine komplexe Erkrankung mit vielen verschiedenen Ausprägungen handelt, gibt es doch stereotype Verhaltensweisen. Dazu gehört beispielsweise, dass dauerhaft kalorien- und fettarme Nahrungsmittel ausgewählt werden. Bisher wurde dieses Verhalten als eine stark ausgeprägte Fähigkeit, Primärtriebe zu überwinden und physiologische Grundbedürfnisse zu unterdrücken erklärt – die Anorexia nervosa galt quasi als Ausdruck einer zielgerichteten Selbstkontrolle. Dieses Modell kann jedoch nicht erklären, warum Menschen auch weiterhin wiederholt solche maladaptiven Entscheidungen treffen, selbst wenn sie es eigentlich besser wissen und sich auch tatsächlich bessern wollen. Die nun veröffentlichte Arbeit weist darauf hin, dass die Entscheidungen der Betroffenen nicht (allein) dem freien Willen der Patienten unterliegen. Das dorsale Striatum, das anscheinend bei den Anorexie-Patientinnen die Ess-Entscheidungen steuert, ist Teil des Hirnsystems, das an der gewohnheitsmäßigen Steuerung von Handlungen beteiligt ist – und für das vielfach eine Assoziation mit Suchtverhalten nachgewiesen werden konnte. „Diese Studie kann auch dabei helfen, Anorexia nervosa mit Störungen wie Substanzmissbrauch, Glücksspiel und anderen Erkrankungen in Verbindung zu bringen, bei denen Entscheidungen beteiligt sein könnten, die durch exzessive Aktivität im dorsalen Striatum beeinflusst werden“, erläutert Studienleiterin Dr. Daphna Shohamy vom Mortimer B. Zuckerman Mind Brain Behavior Institute der Columbia University in New York. „Zu verstehen, wie gemeinsame neuronale Schaltkreise für die Entscheidungsfindung zu scheinbar nicht verwandten Erkrankungen beitragen, wird es den Forschern ermöglichen, sich auf Kernstörungen zu konzentrieren und Fortschritte bei der Behandlung verschiedener Erkrankungen zu erzielen.“
Das Striatum spielt sowohl bei der Entstehung von „normalem“ habituellen Verhalten als auch bei „abnormen“ Gewohnheiten wie Suchtzuständen eine Rolle. Außerdem ist es wesentlich am prozeduralen und impliziten Lernen beteiligt. Während das ventrale Striatum anscheinend eher bei sofortigen Belohnungen aktiv wird, reagiert das dorsale Striatum auf zukünftige Belohnungen. Bei der Ausbildung von gewohnheitsgetriebenem Verhalten ebenso wie bei der Entwicklung von Suchtverhalten verschiebt sich die Aktivität graduell vom ventralen zum dorsalen Striatum. Dies korreliert mit der gängigen Theorie, dass Sucht sich über mehrere Schritte entwickelt: Sie beginnt mit dem bewussten, willentlichen Konsum, aus dem sich ein habitueller Missbrauch mit wiederholter Exposition entwickelt und der schließlich in einer zwanghaften Sucht endet, welche nicht mehr dem freien Willen unterliegt. Repetitive Verhaltensweisen und Gedanken sind außerdem typisch für neuropsychiatrische Erkrankungen wie Tourette-Syndrom und Zwangsstörungen, aber auch Schizophrenie und Chorea Huntington – kein Wunder also, dass auch diese Erkrankungen mit abnormer Striatum-Aktivität assoziiert sind. Ob bei einer Anorexia nervosa gewohnheitsmäßiges Verhalten jedoch die Ursache oder lediglich Ausdruck der Erkrankung ist, bleibt trotz aller Studien weiterhin offen. Sollte aber die Magersucht tatsächlich eine Sucht sein wie Drogenabhängigkeit und Glücksspielsucht, stellt sich die Frage, wie viel bewusste Kontrolle jeder Betroffene tatsächlich über seine fehlgeleiteten (Ess-)Entscheidungen hat, und folglich auch, wie viel Verantwortung er dann für diese Entscheidungen übernehmen muss, kann oder soll. Immerhin aber dürften die Ergebnisse der nun veröffentlichten Studie dazu beitragen, zu verdeutlichen, dass einer psychischen Erkrankung wie Anorexia nervosa nicht allein mit Einsicht und Willensstärke beizukommen ist.