Nein, die Patientin ist nicht schwanger, auch wenn sie so aussieht. Sie klagt über unerträgliche Schmerzen. Im Bauch der jungen Frau befindet sich aber kein Baby, sondern sehr viel Luft.
Das schmerzverzerrte Gesicht der jungen Frau im Wartezimmer war nicht zu übersehen unter den wartenden Patienten, die eher gelangweilt hofften, zur Ultraschalluntersuchung aufgerufen zu werden. Ich zog sie deshalb vor. Ultraschall erbeten zur Abklärung von Bauchschmerzen, war auf dem Überweisungsschein vom Hausarzt vermerkt.
Die schlanke 21-jährige Frau legte sich auf die Untersuchungsliege. „Im wievielten Monat sind Sie schwanger, im achten oder neunten?“ fragte ich. Der prall gewölbte Bauch ließ an nichts anderes denken. „Ich bin überhaupt nicht schwanger, ich habe seit drei Wochen diesen aufgetriebenen Bauch und halte es vor Schmerz kaum aus.“ So ihre gequälte Antwort. Ihre Stuhlgewohnheiten, ihr Appetit seien immer normal gewesen, Medikamente habe sie nicht genommen, Übelkeit oder Erbrechen bestünden nicht, erfuhr ich noch vor der Ultraschalluntersuchung des Bauches. Die zeigte ungewöhnlich viel Luft im Bauch, die Organe wie Leber, Gallenblase, Nieren, Milz, Gebärmutter und Harnblase waren unauffällig, die Bauchspeicheldrüse war durch Luftüberlagerung nicht einsehbar. Es war Donnerstag, das Osterwochenende stand bevor. Ich wies die Patientin mit ihren heftigen Bauchschmerzen ins nahe gelegene Großkrankenhaus ein als „unklarer akuter Bauch“.
Sie wurde auf der gastroenterologischen Abteilung umgehend gründlich untersucht. Alle diagnostischen Maßnahmen, an vier Tagen erbracht, ergaben keinen krankhaften Befund: Normal waren Blut- und Urinwerte, die Spiegelung von Speiseröhre, Magen und Zwölffingerdarm, die Dickdarmspiegelung, die Röntgenuntersuchung des Dünndarms mit Kontrastbrei, im Fachjargon „der Sellink“ genannt.
Am fünften Tag wurde die Patientin aus dem Krankenhaus entlassen und saß am Dienstag der neuen Woche mit dem die erhobenen Befunde aufführendem Entlassungsbrief ohne Diagnose wieder im Wartezimmer, das Gesicht unverändert schmerzverzerrt. Zusätzlich lag noch Vorwurfsvolles im Blick, dass meine Krankenhauseinweisung keine Schmerzerlösung und Diagnose erbracht hätte.
Ich war ratlos, verordnete krampflösende Medikamente, die ärgerlich abgelehnt wurden, da das schon ihr Hausarzt erfolglos verordnet hätte. Ich schrieb einen Überweisungsschein für eine Fachpraxis zum Wasserstoff-Atemtest. Dabei misst man in der Atemluft die Wasserstoffkonzentration, wenn ein Mensch Kohlenhydrate wie Milchzucker, Fruchtzucker oder Sorbit im Darm nicht richtig verarbeiten kann. Dann kommt es zu verstärkten Blähungen. Darmbakterien vergären diese Zucker, wobei auch Wasserstoff entsteht, der ins Blut übertritt und über die Lunge abgeatmet wird, was im Normalfall nicht geschieht.
Vom Erfolg dieser Maßnahmen war ich im vorliegenden Fall nicht recht überzeugt, wollte aber der Patientin damit etwas „Hoffnung“ anbieten. Wir beide waren frustriert. Die Patientin verließ die Praxis aufs Äußerste unzufrieden.
Bei meiner Heimfahrt per Rad entlang der Elbe kam mir die Idee, dass starker Hefepilzbefall des Darms Ursache des extremen Blähbauchs sein könne. In 40 Praxisjahren war mir das einmal begegnet, wenn auch weniger heftig ausgeprägt. Gegen Hefepilz (Candida) gibt es ein sicheres Mittel. Zuhause angekommen, ließ ich mir die Telefonnummer der Patientin von der Praxis übermitteln. Es war in der Mitte der Karwoche. Ich erreichte die Patientin und forderte sie auf, sich umgehend in der Apotheke das entsprechende Medikament aushändigen zu lassen, das Rezept würde nach Ostern eintreffen. Dann wolle ich sie wieder in der Praxis sehen.
Am Dienstag nach Ostern erkannte ich die junge Frau anfangs nicht wieder. Kein schmerzverzerrtes Gesicht unter den Wartenden. Sie berichtete hocherfreut, dass schon nach wenigen Tabletten „die Luft raus war“, die sie drei Wochen peinigte. Sie zeigte mir Selfies vom „hochschwangeren“ Bauch und vom eingetretenen schlanken „Normal-Bauch“ nach der „Luftentbindung“.Da erfuhr ich erst mit Nachfragen, dass sie vor wenigen Wochen Antibiotika wegen einer blutigen Blasenentzündung genommen hatte, was ihr bei meiner Erstbefragung nicht mehr erinnerlich war, da es schon lange zurück lag.
Genau diese Antibiotika können das Gleichgewicht der Darmbakterien in Unordnung bringen, so Hefepilzen im Darm Gelegenheit geben, sich drastisch zu vermehren und den Darm aufzublähen, sodass der schmerzhaft aufgetriebene Bauch im seltenen Fall wie hochschwanger aussieht.
Den fünf im Versorgungszentrum noch tätigen Medizinern zeigte ich abschließend die Patientin und ihren seltenen Fall. Sie hatten das noch nie gesehen. Der Chefarzt des Krankenhauses, auch überrascht, bedankte sich für meine den Fall abschließende Information. Für manches brauche es eben die Erfahrung eines alten Kollegen, schrieb er.
Dieser Beitrag ist von Hanno Scherf, Facharzt für Innere Medizin. Mit dieser Kasuistik hat er an unserem DocCheck-Wettbewerb Mein kniffligster Fall teilgenommen. Weitere Patientenfälle werden in den nächsten Wochen in unserem Newsletter und auf diesem Kanal veröffentlicht.
Bildquelle: Ritu Arya, unsplash