Überstunden, Dauerstress, militärische Hierarchien – als Jungmediziner in der Klinik hat man ein äußerst arbeitsreiches Leben vor sich. Doch die Zeiten ändern sich. Wird das alles bald Geschichte sein?
Schon länger zeichnet sich ab, dass unsere Generation an Medizinern anders ist. Sie traut sich mehr, sie fordert mehr. Vor allem in einer Sache stimmen die Ärzte von morgen überein: Sie wollen eine Work-Life-Balance haben, geregelte Arbeitszeiten und Zeit für Kinder, eine Familie, Hobbys und Freunde. Kurz: ein Leben jenseits von Übermüdung, Dauerstress und ständigen Konfliktsituationen. Klingt doch sehr nachvollziehbar. Warum also werden sie von der älteren Generation immer noch als selbstverliebt und egoistisch abgestempelt, ja sogar als „Problem“, weil sie keine 60-Stunden-Woche haben wollen, ihre Überstunden bezahlt haben möchten und lieber den Job wechseln, als sich an das bestehende System anzupassen?
Es liegt vielleicht nicht nur daran, dass die älteren Kollegen „härter im Nehmen“ sind, da sie die gleiche Ausbildung durchlaufen haben und mit genau den gleichen Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten konfrontiert wurden, aber im Gegensatz zu uns nichts dagegen machen konnten und die Situation akzeptierten. Sie bemängelten vielleicht schon damals die gleichen Umstände wie wir, wollten aus dem System der schlaflosen Überstunden ausbrechen, doch das Bewusstsein der Vorgesetzten und der Gesellschaft ließ so etwas nicht zu, wenn man nicht als „Faulenzer“ und „arbeitsunwillig“ abgestempelt werden wollte. Viele ordneten sich also den Chefs unter und entwickelten einen Zynismus, den die heutigen Studenten nur schwer nachvollziehen können. Christian Schmidt, ehemaliger Chirurg und medizinischer Geschäftsführer der Kliniken der Stadt Köln, der in den neunziger Jahren seine Assistenzarztausbildung gemacht hat, rechtfertigt die Haltung seiner Generation: „Stress trägt zur Persönlichkeitsformung bei. Ich habe das selbst erlebt. Man lernt ja gerade in Krisensituationen. Heute teilt man sich den Wochenenddienst mit drei Leuten. Da sind wir jetzt schon.“ Die junge Generation von Ärzten sieht aber, wie schwer sich gute Medizin in diesem System umsetzen lässt und wie unzufrieden viele Ärzte der älteren Generation mit ihrem Arbeitsalltag sind. Jahrzehntelang waren die Kliniken darauf angewiesen, dass der Ärztenachwuchs im Praktischen Jahr und in Famulaturen monatelang umsonst arbeitete und später endlos unbezahlte Überstunden machte, ohne aufzubegehren. Auf Mütter wurde in Schwangerschaft und bei der Kinderversorgung kaum Rücksicht genommen und auch Väter hangelten sich oft von einem Einjahresvertrag zum nächsten. Jetzt könnte sich das ändern, denn die „Generation Y“, also alle nach 1980 Geborenen, verlangt nicht nur bessere Arbeitsbedingungen und Flexibilität, sondern stellt auch Ansprüche auf Kinderbetreuung, einen besseren Führungsstil, Feedbackverhalten und Coaching. Für die Krankenhäuser mag das schmerzlich sein, da sie künftig mehr Geld für Mitarbeiter als für Maschinen ausgeben müssen. Schmidt erklärt die Generation Y trocken: „Die wollen einen Nine-to-five-Job, kontrollierten Patientenkontakt und keinen Stress. Das ist ein Problem in der Medizin.“ Doch Probleme kann man lösen und die Patienten würden enorm von einer Medizingesellschaft profitieren, die mehr Menschlichkeit in den Mittelpunkt ihrer Visionen stellt.
Andere Länder zeigen bereits, dass dieses System funktioniert. Schweden, England, die Schweiz und Co. bieten ihren jungen Ärzten geregelte Arbeitszeiten, eine angemessene Bezahlung der Überstunden und flache Hierarchien. Die Arbeitgeber unterstützen sie bei der Wohnungssuche, bieten umfangreiche Kinderbetreuung an und fördern das Lernen der Landessprache. Mehr als ein Drittel der etwa 10.000 Mediziner, die jedes Jahr ihr Staatsexamen abschließen, wandern ins Ausland ab. Tendenz steigend. Es ist kein Zufall, dass es momentan 2.000 offene Ärztestellen an Krankenhäusern und Kliniken gibt, wie der Marburger Bund vor zwei Jahren errechnet hat. In zehn Jahren sollen es sogar mehr als 30.000 sein. Wenn es so weiter geht wie bisher, sollen bis zum Jahr 2030 in unseren Krankenhäusern etwa 111.000 Ärzte fehlen. Immer mehr entscheiden sich nämlich gegen die Niederlassung und gegen Überstunden-Jobs in der Klinik, aber für eine Anstellung mit geregelten Arbeitszeiten. 1993 waren lediglich 5.397 Ärzte im ambulanten Bereich angestellt. Letztes Jahr zählte die Bundesärztekammer 26.307. Auch die Zahl der Frauen in der Medizin, die Zahl der Ärzte ohne ärztliche Tätigkeit und die Zahl der Ärzte in Teilzeit nahm in den letzten Jahren stark zu. Es ist der Ausdruck einer sich wandelnden Medizin – mit wandelnden Prioritäten.
Die neue Generation wehrt sich nicht nur gegen horrende Arbeitszeiten, sondern indirekt auch gegen Burnout, Sucht und Depression, die in ärztlichen Berufen überproportional häufig sind. Heutzutage soll laut dem Hamburger Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin beinahe jeder dritte Arzt an deutschen Kliniken unter einem Burnout leiden. Studien zufolge erkranken schon im ersten Berufsjahr 23 bis 31 Prozent aller Assistenzärzte an depressiven Störungen – bei Gleichaltrigen aus der Durchschnittsbevölkerung sind es nur 15 Prozent. Mediziner leiden im Vergleich zu anderen Berufsgruppen auch doppelt so häufig unter Suchtproblemen. Experten schätzen, dass 10 bis 15 Prozent aller Ärzte mindestens einmal im Leben abhängig werden, meist von Alkohol, Beruhigungstabletten oder Schmerzmitteln. Sie haben den Zugriff, das Wissen und vor allem haben sie eine enorm hohe Arbeitsbelastung. Ärzte sind täglich mit Krankheit und Leiden, oft auch mit dem Tod konfrontiert. Und wenn dann noch die vielen Überstunden, der Stress und die Konflikte mit dem Chef oder den Kollegen hinzukommen und der wichtige Ausgleich durch Freizeit, Hobbys, Freunde und Familie fehlt, kann man nachvollziehen, wie diese Zahlen zustande kommen. In Deutschland und in vielen anderen Ländern ist Selbstmord bei Ärzten die häufigste unnatürliche Todesursache. Mediziner bringen sich doppelt so häufig um wie Angehörige anderer Berufsgruppen. Bei den Ärztinnen ist die Suizidrate im Vergleich zur weiblichen Allgemeinbevölkerung sogar viermal höher.
Vor neun Jahren gründete der Psychiater und Psychotherapeut Bernhard Mäulen das „Institut für Ärztegesundheit“, eine Wissensplattform im Internet mit Fachartikeln, Literaturtipps und allerlei praktischen Ratschlägen. Er ist der erste, der offen über dieses Thema spricht und ausgebrannte Kollegen psychotherapeutisch betreut. Nach seiner Ansicht ist es das heutige System, was die Ärzte selbst krank macht. „Es sind vor allem die Arbeitsbedingungen [...]. In den Krankenhäusern [leiden] die Ärzte unter der starren Hierarchie, ständigem Zeitdruck und der körperlichen Belastung durch die langen Arbeitszeiten und Nachtdienste. Die Ausbeutung in den Kliniken ist enorm“, sagt Mäulen. „Ärzte müssen heute doppelt so viele Patienten aufnehmen wie vor 20 Jahren – für dasselbe Gehalt.“ Doch er sieht auch viele niedergelassene Mediziner. Auch sie arbeiten oft mehr als 55 Stunden pro Woche, sind frustriert von Bürokratie und Administration, kämpfen mit finanziellen Unsicherheiten und entwickeln – zumindest in einer Einzelpraxis – häufig ein Gefühl der Isolation.
Dem wollen junge Ärzte nun mit einer Reform der Medizin begegnen. Das Ausbeutungsprinzip, das sich über die Jahrzehnte gehalten hat, bekommt Risse. Der autoritäre Drill mit strengen Hierarchieebenen wird zunehmend nicht mehr ohne Weiteres toleriert. Medizinstudenten verloren früher innerhalb weniger Semester die Illusion, dass es in ihrem Beruf in erster Linie um die Patienten und nicht um die Chefs geht. Doch die neue Generation pocht stärker auf sinnvolle Arbeitsinhalte und -strukturen. „Es wird sich nichts ändern, wenn wir uns nicht ändern“, sagt Johanna K., PJlerin am Klinikum der Universität München. „Unsere Generation hat das in der Hand. Wenn wir klar machen, dass wir das nicht mehr mit uns machen lassen, muss sich das System zwangsläufig ändern.“ Jeden Tag muss sie um sieben Uhr in der Chirurgischen Klinik sein. Selten kommt sie vor acht Uhr abends raus. „Wenn ich nicht wüsste, dass ich irgendwann als angestellte Ärztin einer Praxis feste geregelte Arbeitszeiten und flexible Arbeitsmodelle haben werde, würde ich das echt nicht durchhalten“, so die erschöpfte PJlerin. Johanna hat schon einige Reaktionen auf den Stress in der Klinik bemerkt. Oft ist sie kraftlos, kann am Wochenende nur noch schlafen. An manchen Tagen, an denen sie wegen kleiner Fehler vom Chefarzt vor der gesamten Belegschaft „runtergemacht“ wird, weint sie. „Es sind natürlich nicht alle so. Wir Studenten halten zusammen. Und es gibt ja auch tolle Erfahrungen, die ich machen darf.“ Dennoch fehlt ihr etwas in der Klinik. Wenn sie es betiteln müsste, wäre es wohl Respekt vor ihrer Arbeit. Sie ist der Meinung, dass in einem Krankenhaus jeder wichtig ist – vom obersten Arzt über den Studenten und den Pfleger bis hin zur Putzkraft. „Leider spürt man davon nichts.“
Johanna möchte nach ihrem PJ in die Dermatologie gehen. „Viele Kommilitonen belächeln mich immer. Ich möchte aber eine Facharztausbildung machen, die mir nicht nur Spaß macht, sondern mir auch eine einigermaßen sinnvolle Zeiteinteilung garantiert.“ Johanna ist im dritten Monat schwanger und bringt in ein paar Monaten eine kleine Tochter zur Welt. Schon allein ihretwegen ist sie darauf angewiesen, eine Teilzeitstelle zu ergattern. „Ich möchte gute Medizin machen, dazu gehört aber auch, dass ich mich um mich selbst und meine Familie kümmere.“ Ärztliche Selbstaufgabe nützt keinem Patienten etwas, wenn der Doktor aus Übermüdung wichtige Sachen übersieht. Wer selbst durch die Überlastung im Beruf krank wird, kann keine Patienten mehr heilen. Die menschliche Fürsorge und Verantwortung sind wichtig und dazu gehört eben auch die Selbstfürsorge und die Fähigkeit eigene Grenzen zu erkennen und zu beachten. Unsere heutige Generation ist nicht faul, sie hat nicht den egoistischen Wunsch nach einem möglichst hohen Gehalt mit möglichst wenig Arbeit. Sie hat die Vision einer Medizin, die die Menschlichkeit in den Fokus rückt – und zwar für Patienten und für Ärzte.