„Sie ist immer blasser geworden, bevor sie umgefallen ist!“ Ich eilte zu dem Mädchen. Die Blicke der Kirchengemeinde waren auf uns gerichtet.
Es war ein heißer Sommersonntag, im oberbayerischen Dorf meiner Eltern. Die ganze Kirchengemeinde, zumeist in Tracht, lauschte andächtig dem Monsignore, der den redlichen Dorfpfarrer im Sommerurlaub vertrat und dabei seine eigene Sommerfrische auf einer Alm hoch am Berg verbrachte. Zum Sonntagsgottesdienst kam er ins Tal, lobte bei der Predigt die Freiheit am Berg ohne Telefon und gewann mit seiner volkstümlich-leutseligen und zugleich belesen-intelligenten Art die Herzen der Einheimischen.
Die Kirchgänger dankten es ihm mit herzlicher und zahlreicher Beteiligung an der Sonntagsmesse, lautem Gesang und inniger Andacht. In den vorderen linken Reihen saß ein junges Mädchen, hochgewachsen, immer still und stets ein wenig blass, vielleicht 15 Jahre.
Der vermisste erste Schlag
Plötzlich, mitten während der Wandlung, fiel sie um und wurde rasch aus der Kirche getragen. Ich eilte dazu, die Blicke aller waren auf uns gerichtet, man war bemüht, die unliebsame Störung rasch zu beenden. Ich fand dann in der Sakristei ein blasses Mädchen vor, wieder wach und kontaktfähig, das nur sagen konnte, dass ihm schwarz vor Augen geworden war.
Ich tastete instinktiv sofort nach dem Puls am Handgelenk, konnte ihn aber an gewohnter Stelle nicht finden. Schon wollte ich meine Position verändern, da spürte ich einen regelmäßigen, eher langsamen Schlag um die 50/Minute. Sogleich war ich etwas irritiert, hatte ich doch meine Position eben noch nicht geändert, aber nun hatte ich bei jedem erneuten Tasten an der Stelle einen regelmäßigen, eher langsamen Puls. Ich dachte daher an eine Synkope – das Mädchen trank ein paar Schluck Wasser aus dem alten Glaskännchen der Sakristei, der Puls war eigentlich kräftig, der Blutdruck somit mutmaßlich auch, das Mädchen immer noch ein bisschen benommen.
Etwas störte mich. Warum hatte ich initial den Puls nicht getastet? Immer wieder kontrollierte ich, ob ich nicht einen „Aussetzer“ bekam, aber nein, völlig regelmäßig kam jeder Schlag. Die Mutter berichtete derweil, sie sei ein Pflegekind, sie sei als Kind öfter beim Spielen umgefallen und bekomme regelmäßig EEGs. Mehr an Anamnese war nicht zu erfahren.
Göttlicher Zufall
Der Gottesdienst war mittlerweile zu Ende, neugierige Blicke trafen uns und der Pfarrer kam dazu, recht leutselig bemerkend: „Ja, ich hab schon gesehen, sie ist immer noch blasser geworden, bevor sie umgefallen ist!“.
Es wühlte in mir, warum tastete ich die ganze Zeit keine Pause, hatte ich mich anfangs getäuscht, nicht stark genug palpiert? Was war mit dem vermissten ersten Schlag zu Beginn des Pulstastens gewesen?
Ich entschied mich, nicht zuletzt wegen der vielen Kirchgänger, der neugierigen Dorfgemeinschaft und der nunmehr stabilen Situation, keinen Rettungswagen zu holen, mit welcher Begründung auch, sondern schärfte der Mutter ein, heute recht auf sie zu schauen und bei dem leisesten Anzeichen doch den Notarzt zu holen. Schließlich gab ich ihr, ohne rechte Begründung zu liefern, noch auf den Weg: „Lassen Sie doch mal ein EKG machen.“
Die Wochen vergingen, dann setzte sich eines Sonntags die Mutter rasch vor Messebeginn zu mir und raunte mir zu: „Sie haben Recht gehabt! Sie hat jetzt einen Herzschrittmacher!“
Ich war fassungslos. Da waren Jahre mit EEG-Kontrollen vergangen, und nie hatte jemand an eine andere Ursache der häufigen Synkopen gedacht! Und dieser Zufall in der Dorfkirche!
Das Mädchen und seine Pflegegeschwister, sie sahen mich fortan mit scheelen Blicken an, und ich wusste sofort: Man verzieh mir nicht, dass sie nun einen Schrittmacher tragen musste, das arme Ding – aber man begriff nicht, was es für sie bedeutet hat, dass die Synkopen, diese potentiell gefährliche kardiale Situation, nun ein Ende gefunden hatte.
Dieser Beitrag ist von einem anonymen Autor mit dem Namen fioridelsud. Mit dieser Kasuistik hat er an unserem DocCheck-Wettbewerb Mein kniffligster Fall teilgenommen. Weitere Patientenfälle werden in den nächsten Wochen in unserem Newsletter und auf diesem Kanal veröffentlicht.
Bildquelle: Skull Kat, unsplash