Dass Rauchen, Alkohol oder Luftverschmutzung Krebs hervorrufen können, ist bekannt. Dennoch wird weiter geraucht und getrunken. Doch dass der Genuss einer Wurstsemmel zu Darmkrebs führen kann, haben die Konsumenten bisher kaum in Betracht gezogen. Was nun?
Laut WHO starben 2012 weltweit 694.000 Menschen an Darmkrebs. „Das Darmkrebsrisiko steigt mit dem Alter, Männer sind doppelt so häufig betroffen wie Frauen und entwickeln Darmkrebs auch früher“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Monika Ferlitsch, Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie der Wiener Univ.-Klinik für Innere Medizin. Zudem seien Übergewicht, Diabetes, Bewegungsmangel, Rauchen, Alkohol, Fettleber, Leberzirrhose und wenig Schlaf bekannte Risikofaktoren für Darmkrebs. Außerdem steigt das Risiko für Darmkrebs in der Menopause, da der protektive Effekt der Östrogene wegfällt. Es gibt auch genetische Prädispositionen für den Darmkrebs, so Ferlitsch.
Nun sollen auch Wurst, Schinken, Schweinsbraten & Co gefährliche (Darm)-Krebserreger sein, wodurch so manchem Konsumenten seine Wurstsemmel oder Bratwurst sprichwörtlich im Hals stecken blieb bzw. den Appetit verdarb. Kein Wunder: Immerhin verspeisten die Deutschen im Vorjahr laut Fleischer-Verband 4,9 Tonnen Fleisch und Fleischerzeugnisse wie Wurst und Schinken, was einem Durchschnittsverzehr von 60,3 Kilo/Person entspräche. Hintergrund der Angst ist eine wissenschaftliche Analyse [Paywall] von 800 bisher veröffentlichten Studien durch 22 Experten der IARC (International Agency for Research on Cancer), einer WHO-Behörde. Darin warnt die IARC, dass durch den Konsum von je 50 Gramm verarbeitetem Fleisch (processed meat, das gepökelt oder geräuchert wurde) pro Tag die Wahrscheinlichkeit, an Darmkrebs zu erkranken, um 18 Prozent steigt. „Richtiger wäre es, zu schreiben, dass im Laufe ihres Lebens 5 von 100 Personen an Darmkrebs erkranken. Bei denjenigen, die 50 g verarbeitetes Fleisch pro Tag verzehren, sind es 6 von 100. Im Vergleich dazu erhöhen Fettleber, Übergwicht und Diabetes das Risiko für Vorstufen von Darmkrebs um fast 50 Prozent“, so Ferlitsch. Die Expertengruppe setzte processed meat in die höchste Gefahrenklasse eins (für Menschen krebserregend) und damit auf dieselbe Stufe wie Asbest, Rauch und Alkohol. Rotes Fleisch wurde generell als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft. Dies führte zu großer Unsicherheit in der Bevölkerung. Um diese zu beseitigen, lud beispielsweise der österreichische Landwirtschaftsminister Andrä Rupprechter zu einer Speck- und Wurstjause ins Parlament: „Schinken auf dieselbe Stufe zu stellen wie Asbest, ist hanebüchener Unsinn und verunsichert nur die Menschen.“ Sein deutscher Amtskollege Christian Schmidt ergänzte: „Niemand muss Angst haben, wenn er mal eine Bratwurst isst.“ Etwas wissenschaftlicher argumentierte die Darmkrebsspezialistin Univ.-Prof. Irene Kührer von der MedUni Wien: „Die Leute fragen sich, ‚was darf ich noch essen?‘, verfallen in einen Nihilismus und nehmen dann gar nichts mehr ernst. Dabei sagt die WHO überhaupt nicht, dass wir jetzt nur Gemüse essen dürfen.“ Sie empfehle lediglich, die Menge an verarbeiteten Fleischprodukten am täglichen Speiseplan zu reduzieren. Dies bestätigt auch die IARC: „Das Risiko für Darmkrebs steigt mit der Menge des konsumierten Fleisches“, erläutert IARC-Abteilungsleiter Dr. Kurt Straif. Angesichts der Tatsache, dass sehr viele Menschen verarbeitetes Fleisch essen, habe dies weltweiten Einfluss für die öffentliche Gesundheit.
Die Reaktionen der Ärzteschaft und Interessensverbände reichten von „Die Ergebnisse sind keine Überraschung, wir sehen uns bestätigt“ über „Ergebnisse wurden falsch interpretiert“, „Risikofaktoren wurden nicht berücksichtigt“ bis „Beweise fehlen“. So warnt Medizinnobelpreisträger Harald zu Hausen vor Pauschalurteilen: „Aus unserer Sicht [Deutsches Krebsforschungszentrum DKFZ] bedarf die pauschale Aussage, dass rotes Fleisch und davon abgeleitete Fleischprodukte (wie etwa Wurstwaren) für das erhöhte Krebsrisiko verantwortlich sind, einer Revision und sie bedarf vor allem eingehender Analysen, inwieweit sich der epidemiologische Zusammenhang eines artspezifischen Faktors auch in anderen Studien stützen lässt.“ Auch Cochrane Österreich fehlen klare Beweise des Studienergebnisses. Wie in bisher veröffentlichten Studien wurden andere Risikofaktoren für die erhöhte Krebswahrscheinlichkeit wie Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel und ballaststoffarme Ernährung nicht berücksichtigt. Immerhin würden weltweit durch Rauch und Alkohol 30 bzw. 18 mal mehr Krebstote verursacht als durch verarbeitete Fleischprodukte (rund 34.000). Sollte auch verarbeitetes Fleisch krebsfördernd sein, wären es insgesamt 50.000 Krebstote. Außerdem seien die veröffentlichten Zahlen irreführend. „Sie lassen glauben, dass durch den täglichen Verzehr dreier Semmeln á 50 g Wurst das Krebsrisiko um dreimal 18 Prozent höher sei als das eines Vegetariers“, kritisiert MMag. Bernd Kerschner, Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter im Department für Evidenzbasierte Medizin und klinische Epidemologie an der Donauuniversität Krems. Tatsächlich wurden aber keine Vegetarier untersucht, sondern Personen, die zum einen täglich 50 Gramm Fleisch essen, und solche Studienteilnehmer, die rund 200 Gramm verzehren.
Die IACR bewertet nur, welche Stoffe krebserregend sind. Sie gibt grundsätzlich keine Ernährungsempfehlungen ab, sondern verweist auf die einzelnen Länder. Eine Verbrauchsobergrenze bei Fleisch und Wurst wurde aufgrund der vorliegenden Studie nicht festgelegt. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, pro Woche nicht mehr als 300–600 Gramm fettarmes Fleisch zu essen. Das entspräche 31,2 kg Fleisch pro Jahr und Person. Mit einem geschätzten Pro-Kopf-Verbrauch von rund 60 kg liegen die Deutschen damit fast doppelt so hoch. Dies allein kann negative Gesundheitseffekte von rotem Fleisch nicht schlüssig und im Sinne einer Dosis-Wirkung-Abhängigkeit erklären. Im Prinzip würde die Einschätzung der Krebsforschungsagentur die vorliegenden Befunde unterstützen, so Harald zur Hausen. Allerdings werde in der Studie nicht erwähnt, dass es Länder mit hohem Fleischkonsum (Mongolei, Bolivien, Australien und Botswana) gibt, in denen die Dickdarmkrebsraten trotzdem sehr niedrig sind. Ernährungswissenschaftler weisen darauf hin, dass Fleisch unter anderem wichtige Vitamine und Eisen liefert. Wer auf Fleisch verzichtet, müsse sich die Nährstoffe auf andere Art und Weise besorgen. Sebastian Zösch, Geschäftsführer des Vegetarierbund Deutschland e.V. (VEBU) kommentiert die Studie so: „Die Studienergebnisse überraschen uns nicht, bestätigen sie doch einmal mehr die negativen Folgen des Fleisch- und Wurstkonsums auf die eigene Gesundheit. Wir empfehlen – auch unabhängig von den neuen Ergebnissen – eine vegetarisch-vegane Ernährung als die beste Wahl für die Tiere, die eigene Gesundheit, das Klima und die Umwelt.“
Wie immer in Ernährungsstudien stellt sich bei zwei Studien aus dem Jahr 2015 und 2004 die Frage nach Ursache und Wirkung. In einer Studie der MedUni Graz aus dem Jahr 2004 wurden die Daten von insgesamt 1.320 Personen ausgewertet. Die Grundlage bildete die österreichische Gesundheitsbefragung. Den 330 befragten Vegetariern wurden insgesamt drei Ess-Gruppen zu ebenfalls je 330 Personen gegenübergestellt. Gruppe 1: Mediterrane Kost mit hohem Obstanteil, Gruppe 2: Mediterrane Kost mit moderatem Fleischanteil und Gruppe 3: Mediterrane Kost mit hohem Fleischanteil. Insgesamt hatten die Vegetarier ein schlechteres subjektives Gesundheitsempfinden sowie vermehrt Einschränkungen aufgrund gesundheitlicher Probleme. Die Studie zeigt, dass Personen, die sich ausschließlich vegetarisch ernähren, häufiger unter Krebs, Allergien und psychischen Problemen leiden als Nicht-Vegetarier. „Ob Vegetarier aufgrund des Ernährungsverhaltens ein schlechteres Gesundheitsempfinden bzw. eine niedrigere Lebensqualität haben, oder auf Grund ihrer Gesundheit diese Ernährungsweise wählen, können die Studienergebnisse jedoch nicht zeigen“, erklärt Nathalie Burkert vom Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Med Uni Graz. „Wir können zwar keinen Kausalzusammenhang feststellen, aber gesicherte Erkenntnisse beschreiben“, so Burkert. Die Meta-Studie aus dem Mai 2015 kam durch die Auswertung 27 unabhängiger Studien aus Amerika, Asien, Europa und Australien zum Ergebnis, dass „noch nicht einmal ein klarer Zusammenhang zwischen verzehrter Menge (Dosis-Wirkungs-Beziehung) von Rind,- Schweine- und Lammfleisch erkennbar ist“. Die Studien stammen aus den Jahren 1993 bis 2013 und wurden im Journal of the American College of Nutrition veröffentlicht. Die US-Forscher erklärten, dass es plausibel erscheine, dass rotes Fleisch ein vernachlässigbarer und unbedeutender Risikofaktor bei Dickdarmkrebs sei. Darüber hinaus wiesen die Studienautoren darauf hin, dass auch die Daten zu den vermuteten Mechanismen zwischen Darmkrebs und Fleischverzehr uneinheitlich seien. Ergänzend weisen die Studienleiter auf gravierende Grundsatzprobleme der Ernährungswissenschaften hin: zum einen ist es unmöglich, die „Wirkung“ einzelner Nahrungsfaktoren isoliert von der Gesamternährung und Lebensstilfaktoren zu analysieren. Zum anderen sind Ernährungsbeobachtungsstudien anfällig für Verzerrungen und bieten Forschern die Möglichkeit zur Manipulation. Tatsache ist, dass die IARC ihre Ergebnisse noch nicht in vollem Umfang veröffentlicht hat und daher diese nicht gänzlich nachvollziehbar sind. Die Krebsforschungsagentur stützt ihre Risikoeinschätzung tatsächlich nicht nur auf epidemiologische Studien zu Krebs am Menschen, sondern auch auf etliche Tierstudien und Laborexperimente, die noch nicht vorliegen. Laut Auskunft der WHO wird die volle Risikobewertung als Monographie in den nächsten sechs Monaten veröffentlicht. Originalpublikationen: Carcinogenicity of consumption of red and processed meat [Paywall] Véronique Bouvard et al.; The Lancet Oncology, doi: 10.1016/S1470-2045(15)00444-1; 2015 Red Meat and Colorectal Cancer: A Quantitative Update on the State of the Epidemiologic Science Dominik D. Alexander et al.; Journal of the American College of Nutrition, doi: 10.1080/07315724.2014.992553; 2015 The Association between Eating Behavior and Various Health Parameters: A Matched Sample Study Nathalie T. Burkert et al.; PLoS ONE, doi: 10.1371/journal.pone.0088278; 2014