„Ist das Wasser in meinen Beinen normal?“ Das will eine Freundin von mir wissen. Als Ärztin will ich meinem Kollegen eigentlich nicht ins Handwerk pfuschen. Eigentlich ...
Für Ärzte gibt es ja viele Regeln und Handlungsempfehlungen. Ich versuche sie auch meistens zu berücksichtigen. Zumindest, wenn das möglich ist. Es gibt aber auch Empfehlungen, die ich nur sehr beschränkt praktikabel finde. Eine davon ist das Nicht-Behandeln von Angehörigen, Freunden oder engen Bekannten.
Im amerikanischen Sprachraum ist das schon seit Jahrzehnten eine deutliche Empfehlung der AMA (American Medical Association). Die Begründung: Aufgrund des engen Verhältnisses sei die professionelle Objektivität eingeschränkt.
Das ist auch absolut richtig. Andererseits ist das hier auf dem Land oft nicht praktikabel. Ein Hausarzt soll laut Bedarfsplanung ca. 1.700 Leute versorgen. Wenn nun aber leider ein Dorf nur 400 Einwohner hat und man erstmal 8 bis 10 Kilometer zum nächsten Dorf fahren muss, kann das gerade für ältere Patienten, die nicht mehr selber Auto fahren können, ein großes Problem werden.
Und je stärker man als Arzt oder Ärztin in die Dorfgemeinschaft integriert ist, desto mehr Leute kennt man auch näher. Heißt das, dass ich mich als Arzt also aus den Gemeinschaftsaktionen wie Karneval oder Sportfesten des Dorfes komplett rausnehmen muss? Oder am besten möglichst weit weg wohne, damit ich auf keinen Fall in Versuchung komme, die Leute meines Dorfes besser kennenzulernen, weil das die Objektivität beeeinträchtigt? – Das finde ich problematisch.
Natürlich muss man als Arzt sehr stark auf seine Objektivität aufpassen. Aber das muss man im Grunde genommen immer. Denn wenn man mit einigen Patienten so über die Jahre „durch dick und dünn“ gegangen ist, sie getröstet hat, sie mit ihren Krankheiten begleitet hat, baut man auch eine emotionale Beziehung auf. Aber muss das immer schlecht sein? Und steht das nicht auch der gleichzeitig geforderten „Authentizität“ und „Empathie“ gegenüber?
Ja, ich habe schon mehrfach gute Freunde behandelt und auch mit meinen Kindern laufe ich nicht immer sofort zum Kinderarzt, sondern schaue erstmal selbst, ob ich das Problem lösen kann.
Es gibt für mich aber gewisse Regeln, die ich immer befolge, gerade wenn es sich um Leute handelt, die mir nahestehen:
Da kann allein schon beim Verdacht sehr schnell etwas in der Beziehung kaputt gehen, selbst wenn sich der Verdacht als unbegründet herausstellt.
Im Hinblick auf Zweitmeinungen bin ich extrem froh, dass wir eine Gemeinschaftspraxis mit mehreren Ärzten sind. Auf diese Art kann ich „auf dem kleinen Dienstweg“ eine Zweitmeinung einholen, ohne dass der Patient weit fahren muss.
Das habe ich auch genutzt, als mein Mann einen sehr langwierigen Infekt hatte und ich mir langsam nicht mehr sicher war, ob es wirklich nur eine Bagatelle ist. Da ist es angebracht, den Kollegen draufschauen zu lassen. Es ist aber glücklicherweise damals alles gut gegangen.
Vielleicht wirkt es seltsam, dass ich mich einerseits so oft positiv über Leitlinien und Handlungsempfehlungen äußere, andererseits diese Handlungsempfehlung aber doch esehr kritisch sehe. Aber in diesem Falle kann ich nur sagen, dass ich leider mehrfach in meiner persönlichen Erfahrung Situationen mitbekommen habe, wo ich mich im Nachhinein geärgert habe, dass ich mich nicht eingemischt habe.
Ein Beispiel: Ich habe eine Freundin, die weiter weg wohnt. Sie fragte mich in ihrer ersten Schwangerschaft, ob das normal sei, „dass sie so Wasser in den Beinen habe“. Da sie durchaus schon vor der Schwangerschaft übergewichtig war, dachte ich an eine Gestose und fragte nach den Blutdruckwerten. „Der Frauenarzt sagt immer, der Blutdruck sei in Ordnung.“ Also habe ich das Ganze auf sich beruhen lassen und sie nur aufgefordert, dass beim Gynäkologen nochmal anzusprechen.
Ich dachte mir: Ein gewisses Maß an Knöchelödemen sieht man bei Schwangerschaften im Sommer ja schon mal. Als es dann im Verlauf doch eine Gestose war und ich dann leider erst nach der Geburt sah, dass im Mutterpass ab der 17. Woche (!!!) deutlich hypertone Werte >150/100mmhg dokumentiert waren, war ich geschockt. Und habe mich furchtbar über mich selbst geärgert, weil ich nicht explizit nach den Werten gefragt habe.
Um das einmal ganz deutlich zu sagen: Natürlich behandeln die allermeisten Kollegen richtig und nach bestem Wissen und Gewissen. Aber ja, Problemfälle kommen auch vor. Und gerade wenn man als Arzt und Angehöriger dann daneben steht und erstmal dem Kollegen nicht „ins Handwerk pfuschen“ will, ärgert man sich später natürlich doppelt, wenn es ein vermeidbares Problem war, was man selbst auf dem Schirm hatte, woran aber der behandelnde Kollege nicht gedacht hat.
Man kann es für uns Ärzte auf dem Land vielleicht so formulieren:
Man sollte die sprichwörtliche Kirche im Dorf lassen und nicht Behandlungen von Angehörigen oder Freunden kategorisch ausschließen. Es kann vor allem bei Bagatellen oder Wochenend-Notfällen durchaus mal möglich sein, auch Freunde oder Angehörige zu behandeln. Man sollte sich aber der Risiken bewusst sein und Vorsichtsmaßnahmen treffen wie etwa enge Adhärenz an die Leitlinien, Zweitmeinung durch Kollegen bzw. Abgabe der Therapie bei lebensverändernden Erkrankungen.
Als Arzt sollte ich eins immer wieder versuchen: Die andere Seite sehen. Damit meine ich – wir sind doch selbst oft Partner, Kind oder Eltern. Wir sollten Verständnis haben, wenn jemand Fragen hat. Denn am Ende wollen wir alle dasselbe: Die beste Behandlung für unsere Patienten – und unsere Angehörigen.
Bildquelle: tabitha turner, unsplash