… retten sie vielleicht noch ein Leben. Doch die Entscheidung für den Spenderausweis fällt vielen immer noch schwer. Warum ich das für völlig unbegründet halte.
Die Sache mit der Widerspruchslösung für die Organspende, die gestern im Bundestag abgelehnt wurde, ist also vom Tisch. Gegen den Entwurf stimmten 379 Parlamentarier, dafür 292. Es gab drei Enthaltungen.
Hm. Schade.
Nun mag man von unserem Gesundheitsminister halten, was man will. Es gab schon einige schräge Vorstöße und sehr zweifelhafte Aussagen und Handlungen. Die Einführung der Masernimpfpflicht und den Entwurf einer Widerspruchslösung für die Organspende halte ich trotzdem für sehr gute Maßnahmen. Denn es geht um die Gesundheit der gesamten Bevölkerung.
Als ich am Anfang meines Berufsleben in der Pathologie gearbeitet habe, war ich eines Morgens im Keller und sortierte die Leichenschauscheine, um mich auf die nächste Sektion vorzubereiten.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
Besuche in den Katakomben eines Krankenhauses sind normalerweise eher unüblich. In der Regel war ich alleine mit den Verstorbenen, gelegentlich war noch der Präparator vor Ort.
Glücklicherweise hatte ich an dem Tag noch keinen Verstorbenen eröffnet, war also noch lupenrein und sauber und ging zur Tür. Unseren Präparator hatte ich an diesem Morgen noch nicht gesehen. Ich vermutete, dass er einen Verstorbenen für Angehörige im Nebenzimmer aufgebahrt hatte. Wenn Personen ihre verstorbenen Angehörigen noch einmal sehen wollten, konnten sie in einem speziellen Raum Abschied nehmen.
Als ich die Tür öffnete, stand vor mir eine Frau, sie war etwa 40 Jahre alt.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich sie.
„Eigentlich …, ich weiß auch nicht …“, druckste sie leise herum.
Ich war ein bisschen verwirrt.
„Ich habe mich gerade von meinem Bruder verabschiedet“, kam schließlich die Antwort mit zitternder Stimme.
Ich drückte ihr mein Beileid aus und wartete, bis sie sich wieder etwas gefasst hatte.
Sie fuhr fort: „Er war erst 32. Motorradunfall, schweres Schädelhirntrauma. Er war sofort tot.“
„Scheiße“, dachte ich eloquent und wollte sie gerne in den Arm nehmen, aber in Präparationskleidung war das vielleicht unangebracht.
Die Frau kämpfte mit den Tränen. Und dann lächelt sie plötzlich.
„Aber wissen Sie, er hat alle seine Organe gespendet. Es tröstet mich, dass ich weiß, er hat damit mehrere Menschenleben gerettet. Auch wenn er jetzt nicht mehr da ist. Andere dürfen wegen ihm weiterleben.“
Das zu wissen, war ein Trost für die Frau und es half ihr, mit dem Verlust umzugehen. Nun kämpfte auch ich mit den Tränen.
„Und ich wollte dem Herren Danke sagen, der meinen Bruder aufgebahrt hat. Deswegen habe ich hier geklopft.“
Ich bat sie, kurz zu warten und ging dann los, um den Präparator zu suchen. Als die Frau schließlich gegangen war, wandte ich mich meinen Leichen zu. Wir hatten damals relativ wenige Obduktionen, da in dieser Klinik die Zustimmungslösung galt: Obduziert wird, wer einwilligt. Im Vorfeld oder durch die Angehörigen.
Andere Institute arbeiten mit der Widerspruchslösung: Patienten müssen im Vorfeld ablehnen, dass sie im Todesfalle obduziert werden. In der Klinik, in der ich PJ machte, wurde diese Frage mit dem Aufnahmevertrag geregelt. Das mag makaber erscheinen, aber damit waren alle Dinge geklärt.
Und genauso, wie ich damals in der Pathologie für die Widerspruchslösung plädierte, weil der Erkenntnisgewinn bei jeder Obduktion wichtig ist, bin ich auch bei der Organspende für die Widerspruchslösung.
Es gibt verschiedene Ansätze, um die Organspende zu regeln: Widerspruchslösung, Zustimmungslösung, Entscheidungslösung und die Reziprozitätslösung.
Bei der Widerspruchslösung müssen Menschen ihre Ablehnung zu Protokoll geben. Entweder schriftlich, hierfür wäre ein Register denkbar, oder bei Angehörigen.
Die Zustimmungslösung heißt: Menschen müssen eine Einwilligung abgegeben haben, zum Beispiel durch einen Organspendeausweis. Bei der erweiterten Zustimmungslösung können auch Angehörige den mutmaßlichen Willen des Patienten ausdrücken.
Die Entscheidungslösung wurde 2012 beschlossen und ist eine Erweiterung der Zustimmungslösung, bei der Krankenkassen verpflichtet werden, ihre Kunden zu informieren und aufzuklären, damit sie sich mit dem Thema auseinandersetzen können.
Zu guter Letzt gibt es noch die Reziprozitätslösung, bei der potentielle Spender im Krankheitsfall selbst eher ein Transplantat erhalten als Nicht-Spender.
In Spanien beispielsweise gilt die Widerspruchslösung. Dort sind 48 Organspenden auf eine Millionen Bewohner registriert.
In England nennt sich das Verfahren „soft opt-out“: Zu Lebzeiten kann man der Organspende widersprechen. Geschieht dies nicht, können Angehörige nach dem Tod im Sinne des Verstorbenen entscheiden.
In Norwegen gibt es 20 Spender auf eine Millionen Einwohner, Deutschland ist mit 11 Spenden auf eine Millionen Bewohner europäisches Schlusslicht.
9.000 Menschen in Deutschland warten auf die Spende eines Organs. Und nur 36 % der Deutschen besitzen einen Organspendeausweis, obwohl eigentlich 84 % der deutschen Bevölkerung der Spende positiv gegenüberstehen.
Woher kommt diese Diskrepanz? Wenn es lediglich an mangelnder Aufklärung liegt, dann sollten die Schritte in den letzten Jahren, in denen Krankenkassen mehr geworben und Organspendeausweise verschickt haben, doch irgendwann greifen?
Dass dies in den letzten Jahren, seit Einführung der erweiterten Entscheidungslösung 2012, nicht geschehen ist, zeigt den ausbleibenden Effekt. Im vergangenen Jahr ging die Anzahl der Spenden gegenüber dem Vorjahr sogar von 3.113 auf 2.995 zurück. Weitere Zahlen gibt es übrigens bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation.
Manchen Menschen ist die Unversehrtheit ihres Körpers nach dem Tod wichtig. Sie lehnen beispielsweise aus religiösen Gründen eine Organspende ab. Dies könnte bei der Widerspruchslösung dokumentiert werden, damit diese Entscheidung respektiert wird.
Die Angst vieler Menschen, dass sie als Ersatzteillager missbraucht und bei Unfall oder Krankheit nicht gerettet werden, kann genommen werden. Denn der Tod muss von zwei unabhängigen Ärzten dokumentiert werden und eine Organentnahme ist nur nach wiederholt oder apparativ festgestelltem Hirntod erlaubt. In Spanien dagegen kann die Entnahme bereits nach dem dokumentierten Herztod erfolgen.
Meine persönliche Einstellung: Bevor meine Organe verrotten oder im Feuer verbrennen, könnten sie besser ein Leben retten. Damit bleibt auch ein Teil von mir bestehen. Das Einzige, was man mir nicht entnehmen kann, ist mein verdrahtetes Herz.
Wenn nun schon die Widerspruchslösung abgelehnt wurde, möchte ich wenigstens zur Aufklärung beitragen. Besorgt euch bei eurer Krankenkasse einen Organspendeausweis und dokumentiert eure Wünsche. Und eines Tages rettet vielleicht auch eines eurer Organe ein Leben – wie beim Bruder der getrösteten Besucherin in der Pathologie.
Bildquelle: Joshua Hoehne, unsplash