Der Patient ist tot. Ab hier übernehme ich, denn ich arbeite in der Rechtsmedizin. Neben der Leiche eines 19-Jährigen wurde eine Schale mit Wurzelstücken gefunden.
Nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich arbeite in der Rechtsmedizin, genau genommen in der Toxikologie. Dabei haben wir es immer wieder mit Fällen zu tun, in denen Medikamente von Patienten falsch eingenommen wurden. Einen solchen Fall möchte ich heute vorstellen. Damit ihr diese Geschichte im Kopf habt, wenn es um die richtige Dosierung von Medikamenten geht – und um eure Verantwortung als Arzt.
Man stelle sich vor, Mutter und Vater kommen von einem Wochenendausflug nach Hause und finden ihren 19-jährigen Sohn leblos in seinem Bett in Rückenlage vor. Neben ihm steht eine Schale voll mit Flüssigkeit, in der anscheinend Wurzelstücke eingelegt wurden. Erbrochenes mit genau diesen Wurzelstückchen darin ist noch auf dem Fußboden erkennbar.
Geweitete Pupillen starren die Eltern an – ein Bild, das sie nie vergessen werden. In seinem Zimmer findet die Polizei später neben alkoholischen Getränken, Marihuana und verschiedenen Arzneimitteln noch mehr der zunächst unbekannten Wurzelstücke. Diese finden sich auch in leicht verdauter Form während der Autopsie im Zwölffingerdarm wieder und werden asserviert. Im Urin des Verstorbenen wurden Schmerzmittel (Ibuprofen), Antihistaminika (Diphenhydramin, 8-Chlortheophyllin) und ein Antibiotikum (Trimethoprim) nachgewiesen. Alle Medikamente waren in einem therapeutischen Rahmen, wurden aber offensichtlich eingenommen, um den Suizid des jungen Mannes zu erleichtern. Doch woran starb er nun genau?
Der Wirkstoff der mysteriösen Wurzel entpuppte sich im Screening nach pflanzlichen Substanzen als Aconitin. Es ist im Eisenhut enthalten und wird in der chinesischen Medizin für diverse therapeutische Zwecke angewendet. Geringe Mengen führen zu Herzrhythmusstörungen, Krämpfen, Lähmung der Atemmuskulatur und in einzelnen Fällen zum Tod.
Im vorliegenden Fall wurden 150 ng/ml Aconitin im Schenkelvenenblut nachgewiesen. Ein Wert, der im oberen Konzentrationsbereich angesiedelt ist. Übliche postmortale Konzentrationen in peripherem Blut liegen zwischen 2 und 110 ng/ml. Der Verstorbene muss demnach reichlich von diesen Wurzelstücken verzehrt haben. Einer von vielen tragischen Fällen, die mir während meiner Arbeit täglich begegnen. In diesem Fall als Freitod. Doch leider auch immer wieder durch versehentliche Überdosierungen.
Dieser Beitrag ist von Nadine Theofel. Mit dieser Kasuistik hat die Toxikologin an unserem DocCheck-Wettbewerb Mein kniffligster Fall teilgenommen. Weitere Patientenfälle werden in den nächsten Wochen in unserem Newsletter und auf diesem Kanal veröffentlicht.
Bildquelle: Camille Brodard, unsplash