Besonders schlimm war es mit den Atemwegsinfekten in den ersten drei Lebensjahren, doch auch jetzt hat der 14-jährige Patient ständig Bronchitis. Dazu kommen häufige Diarrhoen. Irgendetwas stimmt hier nicht.
In diesem Beitrag möchte ich einen hart erarbeiteten und schließlich geknackten Fall mit euch teilen. Es ist eine „häufige seltene“ Perle, die einem als Arzt manchmal über den Weg kullert.
Die Situation ist folgende: Ein 14-Jähriger und seine Mutter sitzen bei mir in der Sprechstunde. Der Junge wirkt angespannt, die Mutter sehr belastet. Berichtet wird eine lange Geschichte von Atemwegsinfektionen, besonders in den ersten drei Lebensjahren, aber auch jetzt in der Schule.
Der Fall wurde in einer großen Universitätskinderklinik damals untersucht – ohne Ergebnis. Damals kam es zu einem Pförtnerkrampf und Ernährungsschwierigkeiten im Alter von 6 Wochen. In den ersten drei Lebensjahren traten häufig „obstruktive Bronchitiden“ auf, während der Kindergarten- und Grundschulzeit war der Junge weniger häufig krank.
Seit 2013 kommt es nun wieder gehäuft zu Infekten. Teils war der Patient ständig erkältet, sehr oft litt er an Bronchitis, häufig auch an Diarrhoen. Die Anzahl an Fehltagen in der Schule erreicht ein hohes Ausmaß. Diverse Ärzte meinen, dass die Mutter dem Jungen seine Probleme und Infekte „einrede“. Die Mutter ist durch die vielen Krankheitstage des Sohnes und die resultierenden Probleme deutlich mitgenommen.
Die Untersuchung ist bis auf etwas abstehende Ohren unauffällig, der Junge wirkt schüchtern und in sich gekehrt, „schuldbewusst“, ist selbst durch seine Infekte belastet.
Im Labor findet sich eine gute BKS, ein leicht erniedrigtes Ferritin (26) bei normalem Hb, eine leicht erhöhte INR von 1,3 (>), grenzwertig erniedrigte Leukozyten, die Gamma-Globuline und das IgG im unteren Normbereich, das IgA leicht erniedrigt. Das Cholesterin ist mit nur 105 erniedrigt.
Wir gehen erst einmal von einem leichten Immundefekt und einem leichtgradigem IgA-Mangel aus. Durch die Gabe von Vitamin-D, Eisen, mehr Fleisch, Selen, Zink, die Vitamine A, diverse B-Vitamine und Folsäure, jeweils bei vorliegenden Mängeln, die teils auch durch die häufigen Diarrhöen bedingt sein können, durch ein Probiotikum mit Laktobazillen und durch soziale Änderungen bessert sich die Situation des Jungen deutlich. Er führt auffällig viel Flüssigkeit zu.
Ein glücklicher Zufall für den therapeutischen Erfolg kann hier möglicherweise die mäßige Vitamin-D-Überdosierung gewesen sein, weil dadurch die Symptome (und das PTH, s.u.) gut gesenkt werden können.
Bei der nächsten Blutentnahme geraten wir jedoch ins Grübeln und Recherchieren. Da vertiefen wir nämlich die Abklärung der Immunsituation:Die Zytotoxischen T-Lymphozyten sind stark erniedrigt, das Immunsystem wird als geschwächt eingestuft. Die B-Lymphozyten sind leicht erhöht. Das Verhältnis T4/T8 und die NK-Zellen sind okay. Die erweiterte Diagnostik ergibt dann ein erniedrigtes Parathormon.
Nach einer Recherche stoße ich darauf, dass vieles zu einem Di-George-Syndrom passt (D82.1, 22q11 – Teil-Deletion, q = langer Arm CS 22, seltener im Chromosom 10). Dieses Syndrom ist eine angeborene Defektimmunopathie mit Defekt der T-Lymphozyten und Aplasie/Hypoplasie des Thymus. Es ist das häufigste Mikrodeletions-Syndrom des Menschen. Es wäre hier gegebenenfalls aufgrund der sehr guten intellektuellen Fähigkeiten ein leichter Fall.
Ich erinnere mich an die doch etwas auffälligen, tief sitzenden Ohren. Beim Hörvermögen fiel mir auf, dass der Patient öfters nachfragte, dass sein Sprachverständnis etwas verringert sein könnte. Auch das leicht erniedrigte Kreatinin passt wegen der verringerten motorischen Aktivität der Patienten.
Wir empfehlen daraufhin eine kardiologische und orthopädische Basis-Diagnostik (Rö-Thorax und Herzecho, u.U. MRT Thorax), da mit der genetischen Erkrankung etwa 160 Störungen und Fehlbildungen assoziiert sein können. Es ist eines der häufigsten seltenen Erkrankungsbilder (mindestens 1:4000, sehr wahrscheinlicher eher 1:500 bis 1:1000, da es häufig leichtere Fälle gibt) und wird viel zu selten erkannt.
Die Aufklärung gestaltet sich in solchen Fällen immer heikel. Man sollte zuerst allein mit einem oder beiden Eltern sprechen. Verständlich, dass die Eltern durch die Diagnose mitgenommen werden. Wir beziehen früh den Jungen ein, was nicht unproblematisch ist. Das würden wir beim nächsten Mal anders machen.
Ein großes Problem ist auch die endgültige Diagnose-Sicherung. Man wäre dann zwar sicher, aber auch für das ganze Leben durch eine gesicherte genetische Störung belastet, z.B. auch beim Abschluss von Versicherungen, ein Dilemma.
Es besteht oft eine Obstipations-Neigung, vielleicht trinkt der Patient daher so viel. Auch das häufig erhöhte Calcium kann ein Grund dafür sein. Die Vitamin-D-Gaben taten dem Patienten sehr gut, dies ist auch in der Literatur als gute ergänzende Therapie beschrieben. Dies könnte hier zu einer Normalisierung des Calciums geführt haben. Erst nach Aufklärung der Eltern schildern diese, dass ihr Sohn früher Logopädie und Ergotherapie brauchte und schlecht schnell laufen kann.
Bekannt ist bei dem Syndrom eine Thymusaplasie, eine verringerte T-Z-Immunität, neonatal oft eine Tetanie/Hypokalz., Herzfehler, faziale Dysmorphie, Uvula bifida! Gaumenspalte, Nieren-Obstruktion/-Reflux/-Agenesie/-Dysplasie, Augendefekte, Gefäßeanomalien, Dysgenesien des vorderen Körpersegments, auch zerebrale/zerebellare Atrophie, Zahn-, Skelettdefekte. Später kommen oft Sprachschwierigkeiten, Entwickungs-Verzögerungen und Verhaltens-Auffälligkeiten hinzu.
Über 80 % der Gendefekte kommen bei dieser Erkrankung von der Mutterseite. Daher sollte sie sich auch genetisch testen lassen. Es kommen aber auch Neu-Deletionen (Non-Disjunktion in der Meiose) vor.
Eltern und Kind scheinen viel durchgemacht zu haben. Das Kind wurde in diesem Fall wohl sehr gut gefördert und zeigt nur recht geringe Symptome. Es bestehen dennoch viele klare Hinweise auf ein mögliches Di-George-Syndrom.
Doch selbst, wenn dies nicht die finale Diagnose sein sollte: „Da draußen“ laufen auf jeden Fall viele unerkannte Fälle herum. Neben einer Belastung kann eine frühe Diagnose auch eine große Erleichterung sein und dabei helfen, die Behandlung zu verbessern.
Dieser Beitrag ist von Berthold Musselmann. Mit dieser Kasuistik hat der Allgemeinmediziner an unserem DocCheck-Wettbewerb Mein kniffligster Fall teilgenommen. Weitere Patientenfälle werden in den nächsten Wochen in unserem Newsletter und auf diesem Kanal veröffentlicht.
Bildquelle: Jon Tyson, unsplash