Nach einer wirren Schmerz-Odyssee erhält mein Patient endlich eine Diagnose. Die Sache hat zwei Haken. Erstens: Ich bin sicher, dass diese Diagnose nicht richtig ist. Zweitens: Ich bin Physiotherapeut.
Als Physiotherapeut gestaltet sich die Kooperation mit Ärzten manchmal schwierig. Nicht selten werden Anmerkungen, Therapievorschläge oder das Aufzeigen von Auffälligkeiten vom Gegenüber als Kritik oder Überheblichkeit missverstanden. Es geht aber auch anders: Der Chefarzt einer Bonner Klinik etwa betonte immer wieder, dass wir wie eine alte mechanische Uhr kleine und große Zahnräder in der Klinik haben. Wenn im kleinsten Rädchen Zacken fehlen, läuft selbst die große Uhr irgendwann nicht mehr richtig. Als Nichtmediziner war es dementsprechend mutig, die endlich gestellte Diagnose BSV in Frage zu stellen. Aber der Reihe nach.
Protagonist dieser kleinen Anekdote aus der Physiotherapie ist ein in Wechselschicht arbeitender Beamter. Er klagte über diverse LWS-Beschwerden. Was bei der Haltung für mich als Physio erst einmal kein Wunder war. Jedoch war keine Therapie wirklich von lang anhaltendem Erfolg, also Schmerzreduktion oder Verbesserung der Beweglichkeit gekrönt. Immer wieder war die Therapie mal erfolgreich, dann aber auch wieder ohne Verbesserung. Ein ständig sich wechselndes Bild ohne erkennbaren roten Faden. Sehr zum Leidwesen des Patienten und auch als Therapeut ist man in solchen Fällen eher ratlos.
Natürlich wäre es einfach gewesen, dem Patienten den schwarzen Peter zuzuschieben, ganz nach der Devise: „Wenn der Arzt nicht weiß, was es ist, dann ist es entweder das Übergewicht oder die Psyche des Patienten, aber nie die Unwissenheit des Arztes.“ Ich ging nochmal alle Punkte durch. Keine eindeutige Schmerzsymptomatik, da sehr wechselhaft, mal ventral im Oberschenkel, aber auch großflächig im Bereich der LWS, insgesamt antriebslos und matt. Wärmetherapie gelegentlich angenehm, dann wieder schmerzauslösend. Der Ist-Zustand ist frustrierend für alle Beteiligten.
Dann erhält der Patient die erlösende Diagnose nach dem MRT. Es handle sich eindeutig um einen Bandscheibenvorfall im Segment L3.
Nur: Der Patient legte sich aus dem Langsitz in die Rückenlage und erhob sich ebenfalls gerade hoch in den Langsitz. Und genau hier liegt der Fehler. Kein BSV-Patient wird sich freiwillig in beschriebener Manier so auf die Therapieliege legen, geschweige denn aufstehen! Also der sichtbare Bandscheibenvorfall kann nicht das Problem sein, so „schön“ es auch gewesen wäre.
Auch auf die Gefahr hin, mir anhören zu müssen, ich solle doch bitte die Verordnung befolgend mein „Turnprogramm“ durchführen, bat ich den Patienten, unbedingt Rücksprache mit dem behandelnden Arzt zu halten.Wider Erwarten bestätigte der Mediziner meine Aussage und es wurden die MRT-Bilder nochmals hinzugezogen.
Das Ergebnis war niederschmetternd. Man hatte einen Tumor im M. psoas major übersehen. Das volle Programm, Chemotherapie und Bestrahlung führten dann zum gewünschten Erfolg und zu einem wieder im Dienst befindlichen Beamten. Übrigens blieb der BSV operativ unbehandelt, was aber dem positiven Befinden des Patienten nicht im Wege steht.
Dieser Beitrag ist von Uwe Brendebach. Der Physiotherapeut hat an unserem DocCheck-Wettbewerb Mein kniffligster Fall teilgenommen. Weitere Patientenfälle werden in den nächsten Wochen in unserem Newsletter und auf diesem Kanal veröffentlicht.
Bildquelle: Klaudia Borowiec, unsplash