Virus-Infekte der oberen Atemwege
Stuck, B.A., Beule, A., Jobst, D. et al. publizierten in HNO (2018) 66: 38. https://doi.org/10.1007/s00106-017-0401-5
folgende Leitlinien-Übersicht
"Leitlinie „Rhinosinusitis“ – Langfassung - S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V." mit 368 Literaturangaben.
Warum der Deutsche Hausärzteverband (HÄV) und die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) diese Leitlinien nicht mittragen können?
Ganz einfach: Diagnostisch zu wenig differenziert, wissenschaftlich und methodisch fragwürdig, therapeutisch einseitig von phyto-pharmakologischen und pragmatischen (ut aliquid fiat - „damit irgendwas geschieht“) Gesichtspunkten dominiert.
Nicht jeder "Schnupfen" ist als Rhinitis automatisch eine Rhinosinusitis, ein Sinubronchialsyndrom ist nicht automatisch eine akute/chronische Bronchitis. Virusinfekte der oberen Atemwege ("upper aiway infection" UAI) bzw. "lower airway infection" (LAI) sind auf Grund vielfältiger Ursachen und Erreger derart vielgestaltig, dass endlich einmal kausal-erforschend statt pragmatisch-oberflächlich gedacht werden muss.
Im Gegensatz zu vielen anderen, medizinisch und volkswirtschaftlich weitaus unbedeutenderen Erkrankungen, sind UAI und LAI hochsignifikant wichtige Krankheitsentitäten. Bei den Viren reicht das Spektrum von aggressiven Viren der Influenzagruppe der HN-Systematik mit möglichen, deletären bakteriellen Superinfektionen über Rhino-, Adeno-, RS- ("respiratory syncytial"), Parainfluenza- und Corona-Viren wie aktuell in der VR China. Insgesamt werden etwa 200 verschiedene Erreger für UAI- und LAI-Viruserkrankungen verantwortlich gemacht. Pertussis und Parapertussis-Bakterien machen im Erwachsenen-Alter übrigens täuschend ähnliche Symptome. In Zeiten von Labor-Budgetzwängen gibt es für Vertragsärzte keine Möglichkeit der erweiterten Virusdiagnostik mehr. Aber hier wären Sonderforschungsbereiche des Bundes und der Länder gefordert, die Licht in die "black-box" der Kausalität von Atemwegs- und "Erkältungs-Krankheiten bringen könnten.
Aber für derartige Grundsätzlichkeiten und Systematiken eines pathophysiologischen Kontinuums von UAI und LAI haben die o.g. Leitlinien keinen Platz. Stattdessen kapriziert man sich auf "pflanzliche Enzympräparate, Eukalyptus- und Pelargonium-Extrakte", letzere eine Pflanzengattung aus der Familie der Storchschnabelgewächse (Geraniaceae), alias Umckaloabo® als Pelargonium sidoides Wurzel-Extrakt. "Ampfer, gelber Enzian, Holunder, Eisenkraut und Schlüsselblume", explizit als "Bionorica"-Produkte (BNO 1016, Handelsname Sinupret®) benannt, verschleiern die z. T. erbärmlich schlechte Studienlage. Diese gilt im Übrigen auch für die Inhalation heißer Dämpfe im Bereich von 38–42 °C (weil dem wohl eine "Erkältung" vorausging?) bzw. Spülungen der akut verschnupften Nase mit physiologischer Kochsalzlösung, die gegenüber Leitungswasser keine statistischen Vorteile bietet.
Weshalb ausgerechnet Acetylsalicylsäure (ASS) und Ibuprofen gegenüber Paracetamol zu bevorzugen seien, ist nur noch mit Paracetamol-"Bashing" zu erklären. Die Behauptung, wegen besserer Magenverträglichkeit sei nicht mal Paracetamol oder Novaminsulfon, sondern Ibuprofen gegenüber ASS im Vorteil entbehrt wegen des ulcerogenen Blutungs- und sonstigem Nebenwirkungs-Risikos von NSAR jeder Grundlage.
Das Arznei-Telegramm schrieb z. B. zu SINUPRET:
"...Einer von Bionorica mitfinanzierten Metaanalyse (4) aus dem Jahr 2006 zufolge sind nur zwei von acht randomisierten Studien publiziert, in denen die Präparate bei Sinusitis untersucht werden. Eine der veröffentlichten Studien ist eine methodisch mangelhafte randomisierte Studie mit 31 Patienten und anscheinend die einzige, die auch primär darauf angelegt ist, den Nutzen bei chronischer Sinusitis gegenüber Plazebo zu prüfen. Beschwerden sollen durchschnittlich neun Tage nach siebentägiger Therapie unter SINUPRET signifikant geringer sein als unter Plazebo.(5) Die zweite, von einem Firmenmitarbeiter mitpublizierte Studie (6) prüft den Nutzen des Gemischs im Vergleich zu Plazebo bei akuter Sinusitis als Zusatz zu Antibiose plus abschwellenden Nasentropfen an 179 Armeeangehörigen. SINUPRET-Tabletten sollen demnach besser als Plazebo wirken (vgl. a-t 1997; Nr. 11: 115-6). Neben einem radiologischen primären Endpunkt gibt es einen zweiten, in dem die Patienten die Wirksamkeit bewerten, jedoch lediglich einmalig nach zwei Wochen mit den Kategorien "asymptomatisch", "guter Effekt" und "kein Effekt". Von 27 Patienten (15%) fehlt diese Beurteilung, und 37 (21%) sollen gar keine akute Sinusitis gehabt haben. (4,6)
Nur eine weitere der in der Metaanalyse ausgewerteten Studien untersucht SINUPRET ebenfalls im Plazebovergleich bei akuter Sinusitis. In dieser nicht veröffentlichten Studie mit 140 Patienten, davon 21 (15%) ohne akute Sinusitis, zeigt sich kein signifikanter Effekt auf die Bewertung durch die Patienten. Validierte Skalen wurden in den Studien nicht verwendet. (4) Vier weitere in der Metaanalyse berücksichtigte Studien (4) sowie einen 2008 publizierten Vergleich mit Cineol (Soledum®) (7) erachten wir aufgrund einer fehlenden Plazebokontrolle für den primären Wirksamkeitsnachweis als nicht geeignet. Zu der achten Studie der Metaanalyse (4) fehlen jegliche Angaben. Eine weitere, von Bionorica durchgeführte plazebokontrollierte Doppelblindstudie an 388 Patienten (8) wurde bereits im April 2010 abgeschlossen, ist aber nach wie vor nicht publiziert.
Ein klinischer Nutzen der SINUPRET-Präparate bei Sinusitis erscheint uns nicht hinreichend belegt." (Zitat Ende)
4 MELZER, J. et al.: Forsch. Komplementmed. 2006; 13: 78-87
5 RICHSTEIN, A., MANN, W.: Ther. Ggw. 1980; 119: 1055-60
6 NEUBAUER, N., MÄRZ, R.W.: Phytomedicine 1994; 1: 177-81
7 TESCHE, S. et al.: Eur. Arch. Otorhinolaryngol. 2008; 265: 1355-9
8 Bionorica: Efficacy and Safety of a Herbal Medicinal Product (Dry Extract BNO 1016) in Patients with Acute Rhinosinusitis, Stand 17. Juni 2010 http://clinicaltrials.gov/show/NCT01146860
[© 2012 arznei-telegramm, publiziert am 10. Februar 2012]