Wenn Tagträumen zum Zwang wird, kann das die Lebensqualität stark vermindern. Noch ist nicht viel über „Maladaptive Daydreaming“ bekannt. Ein israelischer Psychologe leistet hier Pionierarbeit.
Mary scheint eine ganz normale junge Frau zu sein. Doch jede freie Sekunde verbringt sie in einer Traumwelt. Zwar weiß sie genau, was Realität ist und was Fiktion. Ihr wirkliches Leben zieht dennoch oft an ihr vorbei. Irgendwann entdeckt sie, dass sie nicht mehr aufhören kann: Sie ist süchtig nach ihren Träumen.
Als Verhaltenssucht versteht Eli Somer das zwanghafte Tagträumen, das er in einer ersten Veröffentlichung im Jahr 2002 „Maladaptive Daydreaming“ (MD) taufte. Der Professor für klinische Psychologie an der Universität Haifa, Israel, beschreibt es als „Extensives Fantasieren, das menschliche Interaktionen ersetzt, und/oder die akademische, zwischenmenschliche oder berufliche Funktionstüchtigkeit beeinträchtigt.“
Wie bei psychischen Erkrankungen, die etwa im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DMS-5) aufgeführt sind, spielt der Leidensdruck eine große Rolle. Eine Behandlung oder Intervention ist erst dann nötig, wenn es negative Auswirkungen hat.
Eine Diagnose ist nicht einfach. Viele Betroffene definieren sich in Internetforen selbst als Maladaptive Daydreamers. Für sie ist es befreiend, sich mit anderen Tagträumern auszutauschen. Denn häufig schämen sie sich, darüber zu sprechen. „Wenn die Leute tagträumen, verbringen sie weniger Zeit mit ihren sozialen Kontakten“, gibt Eli Somer zu bedenken. „Das kann zur Isolation führen – besonders, weil viele MDler ihre Fantasien mit Gesten begleiten.“
Auch, sich Psychologen oder Therapeuten zu öffnen, fällt ihnen häufig schwer. Teils aus Angst, dass ihre Gedanken nicht ernst genommen werden, teils aus der Überzeugung, sie bekämen dann unweigerlich die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung.
Tatsächlich zeigt Maladaptive Daydreaming eine hohe Komorbidität mit psychischen Erkrankungen wie Aufmerksamkeits-Defizit Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), Angststörungen, Depressionen und Zwangsstörungen. Das untersuchte Eli Somer 2017 in einer Befragung von 39 selbsternannten zwanghaften Tagträumern. Das Ergebnis: Über 70 Prozent der Befragten erfüllte die Kriterien für mindestens drei weitere psychische Diagnosen. Fast ein Drittel hatte einen Suizidversuch hinter sich.
Ist das zwanghafte Tagträumen also ein Symptom verschiedener psychischer Störungen oder eine eigene Erkrankung? Eli Somer ist überzeugt, dass Maladaptive Daydreaming in die diagnostischen Handbücher aufgenommen werden sollte. „Ich glaube, die Chancen stehen gut“, so der Wissenschaftler. Noch sei es allerdings zu früh. Zunächst müsse man das Konzept in verschiedenen Ländern und Sprachen validieren. Außerdem gibt es bisher kaum eine Publikation zu dem Thema, an der Somer nicht beteiligt ist. Dass sich das ändert, ist ganz in seinem Interesse. Schon wegen der Menge an Informationen, die noch benötigt werden.
Eine wichtige Frage ist bislang unbeantwortet: Was passiert im Gehirn, wenn das Tagträumen zur Sucht wird? Mit einer Kombination aus Fragebögen und dem Messen der Gehirnaktivitäten will ein Team am Max-Planck-Institut (MPI) für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig mehr darüber herausfinden. „Einerseits wollen wir sehen, wie sich das intensive Tagträumen von den Momenten unterscheidet, in denen man unwillkürlich abschweift und allgemein über alltägliche Dinge nachdenkt“, sagt Dr. Samyogita Hardikar, unter deren Aufsicht die Studie steht.
Andererseits gehe es aber auch darum, die Erlebnisse und Beschreibungen der MDler durch Neuroimaging nachzuvollziehen. Zudem wollen die Wissenschaftler sehen, ob sie die Komorbidität mit psychischen Erkrankungen im Gehirn beobachten können. Noch steckt die Untersuchung in ihren Anfängen. Hardikar und der Gruppenleiter Prof. Arno Villringer sind derzeit dabei, Probanden zu rekrutieren.
Eli Somer beschäftigt sich unterdessen damit, wie man das zwanghafte Tagträumen am besten behandeln kann. In einzelnen Fällen funktionieren Antidepressiva, andere Betroffene versuchen es mit Achtsamkeitstraining. Betrachtet man MD wie Eli Somer als Sucht, wird schnell eine Schwierigkeit klar: Die eigenen Gedanken lassen sich nicht so einfach abstellen, sie sind immer verfügbar. Betroffene brauchen also gute Strategien, um der Versuchung zu widerstehen.
Dabei helfen sicher auch eine klare Diagnose und der Austausch mit anderen Tagträumern – schon daher wäre es für die Betroffenen gut, wenn Maladaptive Daydreaming als eigenständige Erkrankung akzeptiert würde. Wie deutlich es sich von anderen Diagnosen abgrenzen lässt, muss sich erst noch zeigen. Doch auch bisherige psychische Störungen sind oft nicht einfach auseinanderzuhalten.
Dass es den MDlern wichtig ist, mehr über sich selbst und ihre Träume zu erfahren, zeigt die Studie in Leipzig: Bereits vor dem offiziellen Beginn der Rekrutierung meldeten sich mehrere potentielle Studienteilnehmer bei Samyogita Hardikar. Was von außen harmlos erscheinen mag, bedeutet offensichtlich für Viele einen großen Leidensdruck.
Mary hat es geschafft, ihre Fantasien eher willentlich zu steuern. Wenn es ihren Alltag gerade nicht stört, erlaubt sie sich die Traumreisen. Ein paar Mal im Monat übernimmt jedoch das MD die Kontrolle, dann verliert sie sich erneut in fremden Welten. Ganz abstellen möchte sie die Tagträume nicht, selbst wenn sie es könnte. Dazu ist sie zu verbunden mit ihrer Hauptfigur: „Ich weiß nicht, wer ich ohne sie wäre.“
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