Laut vier neuer Reviews gibt es kaum Evidenz dafür, dass rotes und verarbeitetes Fleisch mit Krebs im Zusammenhang steht – auch nicht mit kardiometabolischen Erkrankungen. Diese Erkenntnis hat einen Riesenstreit unter Fachleuten ausgelöst, bei dem mit harten Bandagen gekämpft wird.
Die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC), eine Einrichtung der WHO in Lyon, hat den Verzehr von verarbeitetem Fleisch offiziell als krebserregend eingestuft. Es befindet sich dort in Gruppe 1, in bester Gesellschaft also mit Tabak und Asbest. Den Konsum von rotem Fleisch hat das Gremium als möglicherweise krebserregend eingestuft. Es wurde in Gruppe 2A einsortiert. In dieser Kategorie findet sich z. B. auch Glyphosat.
Beide Einschätzungen halten allerdings viele für falsch. Dies wiederum löste nun einen wahren Shitstorm aus. Was war passiert?
Ende letzten Jahres erschienen bei Annals of internal Medicine mehrere Reviews, die die Aussagen der IARC in Frage stellen: In 61 Studien fand sich nur geringe Evidenz dafür, dass drei Portionen weniger unverarbeitetes rotes Fleisch pro Woche das Risiko für kardiovaskuläre Mortalität, Schlaganfall, Myokardinfarkt und Typ-2-Diabetes lediglich minimal senken.
Auch auf der Suche nach kardiometabolischen und krebsbedingten Folgen bei hoher und niedriger Aufnahme von rotem Fleisch fanden sich in zwölf randomisierten Kontrollstudien „möglicherweise nur geringe oder gar keine Auswirkungen auf die wichtigsten kardiometabolischen Parameter, sowie auf die Inzidenz von Krebs und die Mortalität“. Ein weiterer Review mit Daten aus Kohortenstudien mit je mindestens 1.000 Personen kam zu einem ähnlichen Ergebnis.
Eine Auswertung von 118 Studien mit insgesamt mehr als sechs Millionen Menschen, stufte die Auswirkungen des Verzehrs von rotem und verarbeitetem Fleisch auf die Krebssterblichkeit und -inzidenz als sehr gering und die Sicherheit der Evidenz als gering bis sehr gering ein.
Diese Ergebnisse veranlassten Wissenschaftler der NutriRECS-Gruppe („Nutritional Recommendations and Accessible Evidence Summaries Composed of Systematic Reviews“) zu der Empfehlung, dass es keinen Grund zur Veränderung des Fleischkonsums gibt – mit dem Hinweis, dass es sich um Evidenz von geringer bis sehr geringer Sicherheit handelt. Im Editorial der Zeitschrift gingen die Kommentatoren schon davon aus, dass diese Empfehlung Gegner auf den Plan rufen würde: „Dies ist sicherlich umstritten, basiert jedoch auf der umfassendsten Überprüfung der bisherigen Beweise.“
Damit, dass die Veröffentlichung der Reviews und der Empfehlung einen Shitstorm lostreten würden, hatte aber niemand gerechnet: Das Postfach der Chefredakteurin bei Annals wurde schon durch Massen-E-Mails lahmgelegt, bevor die Zeitschrift überhaupt erschienen war.
Die verbalen Angriffe waren harscher als die von Waffen-Lobbyisten: „Wir haben viel über die Prävention von Schusswaffenverletzungen veröffentlicht. Die Kommentare der NRA (National Rifle Association) waren weniger grob als die Antwort der True Health Initiative“, sagte Chefredakteurin Dr. Christine Laine. Sie wurde vehement aufgefordert, die Beiträge nicht zu veröffentlichen.
Es folgte ein Zerriss der NutriRECS-Empfehlung in den Medien, der auch den Vorwurf von Interessenskonflikten aufgrund von Verflechtungen mit der Fleischindustrie beinhaltete. Was gern übersehen wird: Auch die Kritiker haben zahlreiche Beziehungen zu Unternehmen und Organisationen, die davon profitieren, wenn die Menschen weniger Fleisch essen und sich eher pflanzlich ernähren.
Im Gegensatz zur Rindfleischindustrie sind diese Unternehmen aber von einer Aura der Gesundheit und des Wohlbefindens umgeben (was nicht unbedingt auf Fakten beruht). Es wurde sogar eine Petition bei der Handelskommission eingebracht, die auch für den Verbraucherschutz zuständig ist, mit der Bitte, die "Falschaussagen" zu korrigieren.
Einer der Kritiker von der True Health Initiative, der viele hochrangige Ernährungswissenschaftler angehören, war selbst Mitautor des Reviews, der ergeben hatte, dass ein geringerer Fleischkonsum wahrscheinlich nur wenige kardiometabolische- und Krebserkrankungen verhindern würde. Der Forscher aus Toronto hält die Ergebnisse nach wie vor für richtig, nicht aber die daraus abgeleitete Empfehlung. Wie kommt es, dass er die Daten anders interpretiert als die NutriRECS-Gruppe?
Ein Problem in der Ernährungswissenschaft ist, dass sich randomisierte Kontrollstudien schlecht durchführen lassen: In der Regel weiß man, was man isst, d. h. eine Verblindung ist kaum möglich, und wer möchte schon für eine Langzeitstudie über Jahre hinweg Diät halten? Das führt dazu, dass man sich eher auf Beobachtungsstudien stützt, die nichts über Kausalität aussagen und deren Evidenz automatisch als gering oder sehr gering bewertet wird. Dies passierte auch durch das für die vier Reviews verwendete GRADE-Verfahren, das der strukturierten und transparenten Bewertung der Evidenzsicherheit für Empfehlungen im Gesundheitswesen dient. In der Ernährungsforschung geht es aber um Primärprävention und nicht um die Effekte von Medikamenten, die bei Kranken eingesetzt werden.
Der Werkzeugkasten in der Ernährungsforschung scheint nicht adäquat ausgestattet zu sein, um solche Fragen endgültig und mit Sicherheit zu klären: Wenn man nur einen Hammer hat, wird jedes Problem zu einem Nagel – und das Ergebnis möglicherweise unbefriedigend.
Ist es Hysterie oder sind tatsächlich viele Todesfälle zu befürchten, wenn die Menschen Fleisch essen wie bisher? Diese Frage kann niemand mit Sicherheit beantworten. Einer der Artikel kam zu dem Ergebnis, dass drei Portionen rotes Fleisch weniger pro Woche binnen 10,8 Jahren unter 1000 Personen keinen bis fünfzehn Todesfälle verhindern würden, bei prozessiertem Fleisch wären es fünf bis fünfzehn.
Was man aber mit Sicherheit sagen kann: Etwas weniger schadet der Gesundheit, dem Tierwohl und der Umwelt nicht. So kommentierte auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung: „Die DGE ist sich bewusst, dass eine vegetarische und vegane Lebensweise nur bedingt gesundheitlich begründet werden kann (im Vergleich zu einem geringen Verzehr von Fleisch), aber sehr wohl aus ethischen und ökologischen Gründen. Wenn Sie Fleisch essen, dann nicht mehr als 300 bis 600 g pro Woche.“
Laut Nationaler Verzehrsstudie II aßen Frauen pro Woche durchschnittlich ca. 600 Gramm und Männer etwa ein Kilogramm: Daran ließe sich ohne viel Mühe etwas ändern.