Den Begriff Diabetiker sollte man meiden, hab ich gelesen. Sonst reduziere man Patienten auf ihre Erkrankung. Zuckerkrankheit sagt man sowieso nicht mehr. Die richtige Sprache ist wichtig, aber sie stellt mich vor neue Probleme.
Vor einiger Zeit las ich einen Artikel, in dem es um das Thema Sprache in der Medizin am Beispiel Diabetes ging. Die Autorin ist eine Medizinjournalistin mit Typ-1-Diabetes, die über ihre Erfahrungen mit dem Thema „sensible Sprache“ schreibt. Ich habe hier auch schon über die Macht der Sprache geschrieben und darüber, wie wichtig es ist, Worte mit Bedacht zu wählen.
Der genannte Artikel hat mich allerdings teilweise ratlos zurückgelassen: Wie soll ich die dortigen Vorgaben im hausärztlichen Alltag umsetzen?
Kurz vorweg: Ich beziehe mich in meinem Artikel auf Menschen mit Typ-2-Diabetes, weil die meisten Menschen mit Typ 1 direkt vom Diabetologen behandelt werden.
Es geht erstmal damit los, dass die Begriffe „Zuckerkrankheit“ und „Diabetiker“ nicht mehr verwendet werden sollen. Das ist nicht immer so einfach, wie es auf den ersten Blick klingen mag. Eine Medizinjournalistin wird mich sicher verstehen, wenn ich ihr sage: „Ihre Blutglukosewerte sind zu hoch. Es handelt sich wohl um einen Diabetes mellitus.“ Aber das kann ich bei einigen unserer Patienten gar nicht voraussetzen. Wenn ich sage „Ihr Nüchternglukosewert ist zu hoch“, kommt bei manchen Patienten sofort die Rückfrage: „Was ist denn Glukose?“ – „Der Blutzucker.“ – „Also Frau Doktor, bin ich zuckerkrank?“ (Oder, auch gerne: „Hab ich Zucker?“) Was soll ich denn jetzt darauf antworten?
Seit Jahren wird immer stärker auf die Notwendigkeit einer individuellen Herangehensweise für jeden Patienten hingeweiesen. Das sehe ich auch so. Das heißt meiner Meinung nach aber auch, dass ich unterscheiden muss, ob der Patient vor mir Medizinjargon versteht oder nicht.
Und das kann bedeuten, dass ich der 75-jährigen Dame, die damals mit 15 Jahren von der Volksschule abgegangen ist, weil sie im Haushalt helfen musste und nie die Möglichkeit hatte, eine Ausbildung anzufangen, auch in einfacher Sprache einen Diabetes mellitus Typ 2 erklären muss. Und wenn es dann um eine einfache Definition von Diabetes mellitus geht, wird leider wahrscheinlich der Begriff „Zuckerkrankheit“ fallen. Damit ich für diese Patientin eine Erklärung habe, die sie auch versteht.
Da sehe ich meine Verantwortung als Hausärztin erstmal darin, dass der Patient sich und seine persönlichen Besonderheiten und Erkrankungen selbst auch verstehen muss. Ich finde auch nicht alle Begrifflichkeiten immer glücklich (siehe die doppeldeutige „Blutvergiftung“, entweder als Lymphangitis einer Wunde der berühmte „rote Strich“ oder eben die Sepsis, die auch oft als „Blutvergiftung“ bezeichnet wird). Aber bei manchen habe ich einfach noch keine Alternative entdeckt, die ich besser finde. Deswegen würde ich mich natürlich sehr über gut verständliche alternative Erklärungen in den Kommentaren freuen.
Das Wort „Diabetiker“ soll auch nicht mehr genutzt werden, weil man den Patienten damit auf seine Erkrankung reduziert. Am besten bitte „Mensch mit Diabetes“. Auch da sehe ich eine Frage der Praktikabilität. Wann rede ich überhaupt über und nicht mit meinem Patienten? Eigentlich nur in Übergabe-Situationen, wenn ich z.B. meinen Patienten im Krankenhaus ankündige. Obwohl – darf ich jetzt überhaupt „Patient“ sagen? Reduziert ihn das nicht auch auf die Krankheit bzw. das „Leiden“? Und sollte ich bei der Übergabe überhaupt das Geschlecht erwähnen? Und das Alter? Oder diskriminiert das nicht auch?
Ich fürchte, wenn ich meine Leute ab jetzt als „Menschen mit hervorragender Karriere, toller Familie, vielen Freunden und Diabetes mellitus, der ab und zu mal raucht, was man aber auch verstehen muss bei der Situation ...“ ankündige, dann wird das vielleicht meinem Patienten gerechter, aber gleichzeitig wird mich mein Kollege aus dem Krankenhaus fragen, ob ich ihm nicht mal die relevanten Informationen zur Verfügung stellen kann und warum ich ihm seine Zeit stehle, die in der Notaufnahme eh immer knapp bemessen ist.
Denn so fies das oft ist: Gerade in (Zeitmangelsituationen muss man sich auf die Dinge beschränken, die gerade relevant sind. Und da interessiert den Kollegen Alter, Geschlecht und relevante Vorerkrankungen (nicht der schwere Autounfall vor 10 Jahren, von dem der Patient komplett genesen ist). Zu den für viele Erkrankungen relevanten Risikofaktoren gehört nun einmal der Diabetes. Vor allem, wenn die Blutzuckerwerte den Zielbereich häufiger verlassen haben.
Da kommen wir nämlich zum nächsten Problem: Wie erkläre ich dem Patienten, warum aus medizinischer Sicht, dieser Zielbereich anzustreben ist? Denn natürlich versuche ich die Therapie beim Diabetes mellitus mit meinen Patienten abzustimmen. So wie bei jeder Erkrankung – schließlich habe nicht ich die Erkrankung, sondern der Patient, also hat er das letzte Wort. Es wird aber auch da von mir als Arzt erwartet, dass ich dem Patienten auf verständliche Weise erkläre, warum ich diese oder jene Therapie vorschlage. Denn ich soll ja den Patienten immer so aufklären, dass er zwar entscheidet, aber vorzugsweise so, wie es medizinisch am sinnvollsten ist. Und bitte recht zügig, draußen warten die nächsten Patienten.
Ich nehme mir gerade bei Erstdiagnosen eines Diabetes mellitus immer viel Zeit für Erklärungen. Und zwar bei mehreren Terminen, damit man direkt versuchen kann, aufkommende Fragen zu klären.
Gerade bei den Typ 2 Diabetikern sieht man aber oft dieselben Schwierigkeiten: Der erhöhte Blutzuckerwert tut nicht weh und macht in den ersten Jahren erstmal überhaupt keine Symptome, die der Patient so stark bemerkt, abgesehen vielleicht von vermehrtem Durst.
Dementsprechend gering ist die Motivation einiger Patienten, therapeutisch überhaupt etwas zu unternehmen.
Andererseits sollen wir den Leuten aber natürlich auch keine Angst machen, in dem wir auf die Folgeerkrankungen hinweisen. Mir geht es auch gar nicht um eine Horror-Show. Ich habe aber leider schon mehrfach Patienten gesehen, die sich erst nach der ersten schwerwiegenden Folgeerkrankung (z.B. Herzinfarkt) überhaupt Gedanken darüber gemacht haben, dass ihr Diabetes selbst sie auf Dauer einschränken könnte. Die meisten Patienten erleben erstmal die Therapie als Einschränkung, weil Essverhalten geändert werden muss oder nicht mehr so viel auf der gemütlichen Couch gesessen werden soll. Wenn aber die chronische Herzkrankheit oder Niereninsuffizienz oder die Nervenschäden erst einmal da sind, kann ich sie als Arzt nur noch am Fortschreiten hindern.
Was bis dahin da ist, ist da. Und ich habe als Arzt keinen Einfluss darauf. Ich erlebe immer wieder, dass Patienten mit mir verhandeln möchten: „Och Frau Doktor, die zwei Stückchen Kuchen mittags müssen Sie mir doch gönnen.“ Natürlich gönne ich Frau Müller den Kuchen, das ändert aber leider nichts daran, dass ihre zwei Stücke Kuchen den Blutzuckerwert deutlich ansteigen lassen.
Mit manchen Patienten kann man Alternativen finden, die ihnen auch schmecken, aber weniger negative Effekte auf den Blutzucker haben, z.B. Walnüsse knabbern statt frittierter Kartoffelschalen. Aber im Endeffekt hoffen leider immer noch die meisten Patienten, dass meine Medikamente dafür sorgen, dass sie so weitermachen können wie bisher und nur morgens ein „Tablettchen“ schlucken müssen. Leider funktioniert das einfach nicht.
Womit wir bei einem weiteren Wort wären, dass wir nicht mehr benutzen sollen „Lifestyle-Intervention“. Den Begriff mag ich auch nicht, weil ich ihn sehr umständlich und somit völlig patientenfern finde. Aber die „nichtmedikamentösen Maßnahmen“ wie Bewegung und Ernährungsumstellung (darf man dieses Wort noch benutzen?) beim Diabetes sollten meines Erachtens erstmal die wichtigsten sein. So gut alle unsere Medikamente auch wirken, alle haben auch Nebenwirkungen. Ich kann verstehen, dass Patienten, die die erhöhten Blutzuckerwerte nicht merken, die Medikamente oftmals nicht nehmen möchten. Aber wie soll ich realistisch darüber aufklären und den Patienten keine Angst machen, was die Folgeerkrankungen angeht? Ich bin für Ratschläge dankbar.
Was wir bräuchten, sind Therapieansätze, die dem Patienten auch wirklich helfen, die medizinischen Empfehlungen einzuhalten. Denn ich habe noch nie jemanden getroffen, der wirklich die Folgeerkrankungen will, manche nehmen sie aber in Kauf, weil sie die Therapiealternative für nicht praktikabel halten. Da müssten wir ansetzen. Wenn einer dafür die magische Worte kennt, wäre ich dankbar.
Aber ich fürchte, Einschränkungen bei der Werbung für bestimmte Lebensmittel wären deutlich sinnvoller als Umformulierungen in der Praxis, dazu auch die erste Evidenz bei Kindern hier nachzulesen. Denn wie auch im obigen Artikel erwähnt: Unsere Sprache hört der Patient für wenige Minuten pro Quartal – die Werbung jeden Abend.
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