Haarausfall, Gewichtsverlust, Immundefekte – Chemotherapien haben erhebliche Nebenwirkungen. Durch zielgerichtete Therapien mit bewaffneten Antikörpern versucht man, sie zu reduzieren. Bald könnte das noch eleganter gelingen.
Trotz aller Nebenwirkungen sind Chemotherapien aus der Onkologie nicht wegzudenken. „Unser Problem ist die unspezifische Wirkung auf alle Zellen, was auch Nebenwirkungen wie Haarausfall erklärt“, so Professor Dr. Norbert Sewald von der Universität Bielefeld. „Besser wäre natürlich, den Tumor anhand von Oberflächenstrukturen spezifisch zu erreichen, ohne sonstige Zellen in Mitleidenschaft zu ziehen.“
Die Idee zielgerichteter Chemotherapien ist nicht neu. In den letzten Jahren haben Forscher zahlreiche Rezeptoren identifiziert, etwa Proteine oder Glykoproteine, welche vermehrt auf der Oberfläche bestimmter Krebszellen vorhanden sind. Sie lassen sich als Antigene mit Antikörpern ansteuern. Über einen Linker (ein kleines Molekül als Verbindung) hängen daran zytotoxisch aktive Moleküle. Einige Beispiele für Antikörper-Wirkstoff-Konjugate:
Doch die Therapeutika haben Nachteile. „In vielen Fällen ist ihre Gewebepenetration recht gering“, erklärt Sewald. Antikörper gelangen als große Moleküle nicht in tiefere Schichten ausgedehnter, solider Tumore. Das führt dann dazu, dass doch mehr Nebenwirkungen auftreten als erwünscht.
„Deshalb haben wir als Idee, kleine Peptide anstelle großer Antikörper zu verwenden“, erklärt der Forscher. Zusammen mit Kooperationspartnern untersucht er diese Strategie im Netzwerk „Magicbullet::Reloaded“.
Das geht so: Viele Tumorarten sind heute gut charakterisiert. Man kennt deren Oberflächenstrukturen und kann am Computer Moleküle designen, die daran binden. Peptide, also Moleküle, die meist aus weniger als zehn Aminosäuren aufgebaut sind, eignen sich gut – sie sind unter anderem die Basis vieler Hormone und binden selektiv an entsprechende Rezeptoren auf der Zelloberfläche. Sie lassen sich über chemische Synthesen vergleichsweise leicht erzeugen, aufreinigen, charakterisieren und mit Chemotherapeutika verbinden.
Zum Vergleich: Antikörper müssen biotechnologisch in Zellen hergestellt werden. Es handelt sich bei „bewaffneten“ Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten nicht um chemisch einheitlich definierte Moleküle. Die Aufreinigung und die Verknüpfung mit Arzneistoffen gestaltet sich schwieriger – und das Verfahren selbst ist zeitaufwändiger.
Kleine Peptide haben weitere Vorteile. Bei ihnen gibt es spezifische Stellen, an denen man zytotoxische Moleküle anknüpfen kann. Dies liefert ein präzises Verhältnis von Peptid zu Wirkstoff, während dieser Wert bei Antikörpern aufgrund vieler reaktiver Stellen schwankt, was die Dosierung erschwert. Selektive Reaktionen seien bei den großen Antikörper-Molekülen kaum machbar, erklärt Sewald.
Hinzu kommt: Mittels Peptidchemie gelingt es leichter, Konjugate zu erzeugen, die im Blutkreislauf – etwa nach einer Infusion oder Injektion – stabil bleiben. Sie binden schließlich an Zielrezeptoren maligner Zellen. Erst zu diesem Zeitpunkt spalten spezifische Enzyme in Tumorzellen oder im Tumorgewebe den Linker zwischen Peptid und Wirkstoff. Das aktive Molekül wird freigesetzt und entfaltet seine zytotoxische Wirkung. Würde dieser Schritt zuvor passieren, hätte man wieder alle bekannten Nebenwirkungen klassischer Zytostatika.
„Wir wissen nach der ersten Phase von Magicbullet bereits, welche Peptide vielversprechende Eigenschaften für den Wirkstofftransport haben“, berichtet Sewald. Eine Reihe unterschiedlicher Moleküle sei untersucht worden. „Außerdem hat sich gezeigt, dass manche Peptide nicht selektiv von Tumorzellen aufgenommen werden.“ Daraus leiten die Forscher als Hypothese ab, dass nicht nur die Sequenz von Aminosäuren eine Rolle spielt, sondern auch die Größe des Peptids. Diesen Aspekt untersuchen Sewald und Kollegen in nächster Zeit.
Neue Mitglieder im Konsortium bringen auch weitere Expertise mit. Biologen untersuchen Konjugate in Tumormodellen, beispielsweise in Zellkulturen. Und vielversprechende Moleküle werden perspektivisch in Tierexperimenten weiter bewertet. Sewald betont, derzeit handele es jedoch um ein Projekt der Grundlagenforschung.
Neben Peptiden oder Antikörpern untersuchen weitere Forschergruppen Nanopartikel als Möglichkeit der zielgerichteten Krebstherapie. „Aus chemischer Sicht ist deren Beladung mit Wirkstoffen nicht das Problem“, so Sewald. „Man steht aber auch hier vor der Schwierigkeit, kein einheitliches Verhältnis von Wirkstoff zu Partikel zu erreichen, wie bei den Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten.“ Offen seien auch noch Fragen zur Sicherheit kleiner Teilchen.
Als Vorteile sieht er die Möglichkeit, Zytostatika zu verkapseln und langsam freizusetzen. Magnetische Partikel lassen sich über externe Felder steuern. Ansonsten sind auch spezielle Oberflächenstrukturen wie kleine Peptide oder Proteine geeignet, damit Nanokügelchen an malignen Zellen binden.
Bildquelle: Alex Lee, Unsplash