Über den Sachverstand mancher Sachverständiger muss man sich einfach wundern. So stößt eine aktuelle Entscheidung zur Verschreibungspflicht bei mir nur auf Unverständnis.
Der „Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht“ tagt zweimal jährlich im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Er beschließt Empfehlungen zu Anträgen auf Änderung der Verordnung über verschreibungspflichtige Arzneimittel nach § 48 AMG. Er besteht aus 13 stimmberechtigten Mitgliedern – darunter Hochschulprofessoren, Arzneimittelkommissionen von Ärzten, Apothekern und Tierärzten und Industrievertretern. Auch die Apothekerschaft selbst ist durch ein Mitglied vertreten, das allerdings nicht stimmberechtigt ist. Vorsitzender des Ausschusses ist der Präsident des BfArM.
Hier wird unter anderem darüber beratschlagt, welche Arzneimittel sich beispielsweise für einen OTC-Switch anbieten, also aus der Verschreibungspflicht entlassen werden können. Kürzlich haben die Mitglieder wieder getagt, und eine Empfehlung ausgesprochen, die bei Apothekenmitarbeitern auf sehr geteilte Reaktionen hervorruft. Denn der Ausschuss hält es für richtig, die H1-Antihistaminika Doxylamin und Diphenhydramin der Verschreibungspflicht zu unterstellen. Allerdings – und das ist ganz neu – nur für über 65-Jährige.
Grundsätzlich ist dieses Ansinnen verständlich, denn es besteht bei der Kombination mit vielen anderen Medikamenten die Gefahr von lebensgefährlichen Wechselwirkungen. Die Kombination mit Pharmaka, die die QT-Zeit verlängern oder eine Hypokaliämie bewirken können, ist hier genauso gefährlich wie mit zentral dämpfenden Medikamenten, Blutdrucksenkern, Anticholinergika, CYP2D6-Inhibitoren oder MAO-Hemmern. Von der gleichzeitigen Einnahme mit Alkohol ganz zu schweigen. Nicht umsonst werden beide Wirkstoffe in der PRISCUS-Liste geführt, mit der Begründung, dass sie anticholinerge Effekte, Schwindel und EKG-Veränderungen hervorrufen können.
Doch ist dieser Wirkstoff nur für ältere Menschen gefährlich? Mitnichten, denn in bestimmten Kreisen wird es als Rauschmittel missbraucht – und da sind mit Sicherheit kaum Senioren gemeint. Außerdem haben nicht nur Senioren hohen Blutdruck, trinken alkoholische Getränke oder haben Depressionen, die mit MAO-Hemmern behandelt werden.
Für Kleinkinder unter einem Jahr ist Doxylamin zur Behandlung von Schlafstörungen bereits seit Anfang 2019 als verschreibungspflichtig eingestuft. Diphenhydramin untersteht jedoch, gegen Übelkeit und Erbrechen eingesetzt, weiterhin auch für Kleinkinder nur der Apothekenpflicht.
Der Switch für unter Einjährige wurde unter anderem damit begründet, dass sie besonders empfindlich auf Anticholinergika reagieren. Das könnte möglicherweise der Grund für die jüngste Empfehlung sein, denn auch ältere Menschen reagieren empfindlicher auf Anticholinergika. Könnte sein, wohlgemerkt, denn die tatsächlichen Beweggründe der Sachverständigen bleiben vorerst im Dunklen: Im Kurzprotokoll findet sich nicht ein erklärender Satz zur Entscheidung.
Noch im Juni vergangenen Jahres votierte derselbe Sachverständigenausschuss übrigens mehrheitlich dafür, Antihistaminika der 1. Generation mit sedierender Wirkung bei Patienten über 65 Jahren nicht der Verschreibungspflicht zu unterstellen. Die Zahl der gemeldeten Fallberichte war einfach zu gering.
Bildquelle: BfArMIn diesem Positionspapier werden die Pro- und Contra-Argumente einer Verschreibungspflicht sehr anschaulich gegenübergestellt. Auf der Contra-Seite werden folgende Punkte genannt:
Die Pro-Seite wartet dagegen mit weniger stichhaltigen Punkten auf:
Gerade die erwähnte Alvarez-Studie ist aber in folgender Hinsicht bereits als limitiert erkannt worden:
Aus diesen Gründen bleibt vielen Pharmazeuten der jetzige Umschwung des Sachverständigenausschusses unverständlich. Der problematischste Punkt ist hier sicher die Praktikabilität der Altersbegrenzung ab 65 Jahren.
Denn wie soll es umsetzbar sein, einem erwachsenen und selbstbestimmten Menschen das Recht auf eine Schlaftablette abzusprechen, die sein Enkel wiederum völlig unbehelligt einfach kaufen könnte? Jeder, der in der Apotheke arbeitet, kann sich die Diskussionen, die auf eine solche Entscheidung folgen würden, sicher lebhaft vorstellen.
Bereits heute beraten die verantwortlich denkenden Apothekenmitarbeiter Kunden, die orale H1-Antihistaminika verlangen, mit der Frage nach einer Co-Medikation oder zusätzlich vorliegenden organischen Erkrankungen. Es folgen Fragen nach der Schlafhygiene, den möglichen Gründen der Schlafprobleme und Versuche, andere wirksame Alternativen zu Dimenhydrinat oder Diphenhydramin zu finden, wenn diese Medikamente nicht zum Allgemeinzustand des Patienten passen.
Kunden, die sie kurzfristig – beispielsweise auf einer Urlaubsreise – benötigen, und die keine weiteren schwerwiegenden Erkrankungen haben, aber über 65 Jahre alt sind, wegzuschicken, erscheint unsinnig. Der Verweis auf die aktuelle Gesetzgebung ist für viele sicherlich unverständlich.
Wir werden aller Voraussicht nach ein praktisches Problem in der Umsetzung bekommen. Der „U65-Besorger“ – wie ihn eine Apothekerin kürzlich benannte – wird kommen und für den Nachbarn, die Oma oder die Mutter einkaufen. Und wie soll der Apothekenversand das handhaben? Mir klingen jetzt schon die Ohren: „Dann kaufe ich mir das jetzt im Internet, wenn sie es mir nicht mitgeben – als Kunden sind sie mich jedenfalls los!“ Betroffene Kunden würden (zurecht?) das Gefühl bekommen, allein wegen ihres Alters bevormundet zu werden.
Man sollte übrigens nicht denken, dass der Missbrauch mit der Unterstellung unter die Verschreibungspflicht ein Ende hätte! Die sogenannten „Z-Drugs“ sind auch der Verschreibungspflicht unterstellt und sollten nur kurzfristig Anwendung finden. Trotzdem flattern fröhlich weiterhin die Privatrezepte mit ebendiesen gefährlichen und abhängig machenden Medikamenten für Stammverwender ins Haus, die sie sich alle 20 Tage bei uns abholen. Ihre Anzahl erhöht sich stetig.
Wenn die Medikamente zu gefährlich sind, um sie der Apothekenpflicht zu unterstellen, dann sollte der Sachverständigenausschuss den konsequenten Weg gehen und sie komplett und für alle Personen- und Altersgruppen für die Verschreibungspflicht empfehlen. Das wäre der sinnvollste Weg.
So ließen sich auch Dealer umgehen, die ansonsten die begehrten Schlafmittel für ältere Menschen besorgen und völlig ohne Beratung verkaufen. Das empfinde ich persönlich nämlich als deutlich gefährlicher, als die jetzige Situation, in denen die Patienten in der Apotheke wenigstens noch die Chance auf eine ordentliche, umfangreiche und lösungsorientierte Beratung haben.
Bildquelle: Dominik Vanyl, unsplash