Das Wasser ist 8 °C kalt. Strampelnd versucht sich die Vierjährige noch über Wasser zu halten. Doch bald legt sich eine gespenstische Stille über den Teich. Zwei Geschichten über Kälte.
Als medizinische Maßnahme ist Kälte ein Segen. Wir setzen sie ein, um Menschen zu retten, um Gehirnzellen nach einer Wiederbelebung zu schützen. Kälte macht sogar große Operationen wie den Ersatz einer gerissenen Hauptschlagader erst möglich. Aber außerhalb der Klinik kann sie den Menschen zum Verhängnis werden. Zwei Geschichten über die Kälte.
Michaela ist ein vier Jahre junges Mädchen als sie in einen eiskalten Teich fällt. Als sie in den Teich gleitet, versucht sie noch sich durch Strampeln über Wasser zu halten. Hinterher wird man Erdreste unter den Fingernägeln finden, Michaela hat wohl zunächst noch erfolgreich versucht, sich am Ufer fest zu halten. Retten kann sie sich selbst nicht. In der Zeit, in der sie ihren Kopf noch über Wasser hält, kühlt das 8-9°C kalte Wasser innerhalb weniger Minuten erst das Blut in den Beinen und dann auch die Muskeln aus.
Jeder der schon mal bei Schnee und Eis ohne lange Unterhose auf den Bus gewartet hat, weiß wie schwer, müde und kraftlos kalte Muskeln in den Beinen werden. Michaelas Muskeln werden schließlich auch kalt und schwach, versagen ihre Arbeit. Die von der Kälte gelähmten Beine werden bleischwer, ziehen Michaela letztlich unter die Wasseroberfläche.
Nach dem Überlebenskampf legt sich eine gespenstische Stille über den Teich. Michaela liegt auf dem Boden dieses Teiches, auch das Herz schlägt immer langsamer, der Herzrhythmus entkoppelt, schließlich bleibt das Herz stehen.Nach einer halben Stunde wird Michaela gefunden. Zunächst von der Familie, dann von einem Notarzt reanimiert. Die erstmalig gemessene Körpertemperatur beträgt gerade mal 18°C. Michaela wird beatmet, in ein Krankenhaus geflogen und dort an der Herz-Lungen-Maschine erwärmt.
Michaela nimmt ein paar Komplikationen mit, kann aber schließlich ohne Residuen, das heißt ohne sichtbare, neurologische Folgeschäden entlassen werden. Die ganze Geschichte wurde verfilmt und als „Wunder von Kärnten“ bekannt. In einem hörenswerten Vortrag von Dr. Markus Thalmann aus dem Jahr 2017 schildert er die Ereignisse und glücklichen Fügungen von damals gemeinsam mit ein paar Hintergrundinformationen zur Hypothermie. Von Prof. Dr. Michael Holzer gibt es ebenfalls einen großartigen Vortrag über die therapeutische Hypothermie – den Einsatz einer künstlichen Herunterkühlung eines Patienten nach einer Wiederbelebung. Beides schöne Beispiele dafür, wie wir Kälte in der Medizin nutzen.
Kälte beschäftigt uns aber in diesen Tagen vor allen Dingen aus ganz anderen Gründen. Alkoholisierte, oft wohnungslose Patienten werden irgendwo aufgefunden und vom Rettungsdienst in unsere Klinik gebracht. Eigentlich gehören diese Menschen in eine Unterkunft, wo sie warmes Essen und einen sicheren Schlafplatz bekommen. Im Krankenhaus haben wir beides, trotzdem sind wir dafür eigentlich nicht die richtige Adresse. Die ganze Infrastruktur, das Equipment einer zentralen Notaufnahme und vorallem das Personal ist viel zu teuer. Trotzdem landen unterkühlte Obdachlose bei uns, weil keiner weiß, wo sie sonst hin sollen.
Die soziale Isolation führt dazu, dass Menschen wie Herr Jawotschek durch alle Maschen sozialer Hilfsmaßnahmen fallen. Und ganz am Ende eines tiefen Falls landen diese Menschen dann manchmal bei mir im Schockraum. Für Herrn Jawotschek wäre Weihnachten 2017 vielleicht anders verlaufen, wenn er nicht von allen ignoriert worden wäre.
Herr Jawotschek wohnte mit seiner Frau in einer 50qm-Einliegerwohnung. Sortierte Verhältnisse, kinderlos, zwei Katzen, er Schichtarbeiter im Sicherheitsdienst, sie bei einem kleinen Entsorgungsbetrieb in der Verwaltung. Zusammen reichte das Geld für einen sich ewig wiederholenden Lebensrhythmus aus Arbeit, Urlaub im Harz, Schützenfest und einmal im Monat einem Abendessen im Restaurant. Entweder beim Griechen (seine Wahl) oder beim Italiener (ihre Wahl). Es war diese Monotonie, die ihnen Sicherheit gab.
Herr Jawotschek sagt, es war ein schönes Leben ohne Überraschungen. Dann kam die Überraschung. Seine Frau entdeckte im Urlaub einen Knoten in der Brust, sie hatte auch schon viel abgenommen. Keine vier Monate später war sie tot. Der Schmerz über ihren Verlust, die Leere in der Wohnung ließen ihn zum Alkohol greifen. Der Supermarkt lag am Ende der Straße, einen Fußweg von nur 100 Meter entfernt. Ganze Regale voll mit Problemlösern in allen Farben und Geschmacksrichtungen. Herr Jawotschek war immer häufiger krank, fehlte auf der Arbeit, verlor schließlich seinen Job. Mit Hartz-4 konnte er die Wohnung nicht halten, er solle umziehen.
Es war Sommer, Herr Jawotschek nahm einen Rucksack, zog die Tür zu und kehrte nicht mehr zurück. Er schlief eigentlich immer auf dem Parkdeck eines Möbelhauses, hinten in einer Ecke hinter den Einkaufswagen. An einem kaltnassen Novembertag 2017 schmerzte die Kälte besonders. Trotz Jacke und Schlafsack, trotz Wodka und Korn. Der Alkohol ist ständiger Begleiter, tröstet, dämpft und lindert im Winter die durch die Kälte entstehenden Schmerzen. Irgendwann hüllte ihn eine gnädige Dämmerung ein.
Menschen gingen an ihm vorbei, sie sahen ihn und dachten sich wohl auch, dass bei diesem Wetter und der Eiseskälte niemand dort liegen sollte. Sie alle ignorierten die notwendige Konsequenz. Es waren ja genug andere dort. Wenn keiner von denen etwas macht, dann müssen wir ja auch nichts machen. Bei Außentemperaturen die nachts bis auf -5°C abfielen liegt Herr Jawotschek dort und an ihm strömen unzählige Menschen vorbei.
Auf den Kameras der Überwachungsmonitore wird man hinterher sehen, dass an zwei Tagen in Folge Menschen an ihm vorbei liefen und teilweise sogar über ihn drüber stiegen, um Müll in einem hinter ihm angebrachten Mülleimer zu entsorgen. Zu jedem Unglück gehört auch immer Glück und Herr Jawotschek hatte Glück, weil der hinter ihm abgelagerte Papier- und Kartonagenmüll nicht abgeholt wurde während er da lag. Diese isolierten ein wenig, hielten die ganz kalten Luftströme weg und sorgten dafür, dass die warme Abluft aus dem Kaufhaus nicht sofort weggeweht wurde. Wenn man sich nah genug an die Abluftrohre legt und der Wind gut steht wird man bei Regen oder Schnee noch nicht mal nass. Der Platz ist beliebt, der Platz muss regelmäßig gegen andere Obdachlose verteidigt werden.
Städtische Übernachtungsangebote sind keine Alternative für ihn. Die letzten Male in denen er dort übernachtet hat, wurden ihm die wenigen Habseligkeiten die er noch besitzt, gestohlen. Von einem anderen Obdachlosen. Er kommt klar, will kein Mitleid, aber die nasse Kälte macht auch ihm zu schaffen. Am Ende einer langen Nacht öffnete das Möbelhaus seine Türen, ein weiterer Tag an dem Eckbanken in Sonoma Eiche Imitat den Besitzer wechselten. Eine weitere Nacht in der sich das Parkhausdeck leerte und nur Herr Jawotschek dort blieb. Ein neuer Tag an dem Boxspringbetten mit 7-Zonen-Tonnentaschenfederkernmatratzen für jetzt-nur-899€ verkauft wurden.
Es muss ein weiterer, glücklicher Zufall gewesen sein, dass die Autobatterie eines Golf Sportsvan – der eigentlich einen neuen Couchtisch nach Hause bringen sollte – an diesem Tag ihren Dienst versagte. Direkt neben Herrn Jawotschek wurde von der Pannenhelferin versucht, die Batterie zu überbrücken und dem Auto so zu einem Neustart zu verhelfen.
Als Metapher wäre das schon reichlich kitschig. Wer Rettungsdienst fährt weiß: die Geschichten des echten Lebens sind kitschiger, dramatischer und absurder, als es eine Liason aus Rosamunde Pilcher und Jim Carrey hergeben könnte. Die Pannenhelferin war es, der die Situation komisch vorkam. Der Mann dort bewegte sich nicht mehr, er fühlte sich kalt an. Tot.
Die Pannenhelferin war es daher auch, die als herbeigerufene Helferin ihrerseits Hilfe herbeirief. Tatsächlich war ein sehr kompetentes Team eines RTWs als ersteintreffendes Rettungsmittel vor Ort und leitete ein EKG ab welches Zeichen einen funktionellen Kreislaufstillstand zeigte (PEA). Die fast zeitgleich eintreffende Notärztin entschied sich für eine schonende Rettung (s. Bergungstod) und Immobilisation und fuhr ein Zentrum mit der Möglichkeit zur extrakorporalen Erwärmung an.
Herr Jawotschek wurde noch im Schockraum unserer Klinik für den Anschluss an eine Herzlungenmaschine kanülliert. Während wir Herrn Jawotschek langsam aufwärmten, diskutierten wir die Sinnhaftigkeit des Unterfangens. Das Kalium war schon relativ hoch, ein Zeichen für einen höhergradigen Zellschaden und eine längere Liegedauer. Im cCT fand sich kein Hinweis auf einen höhergradigen Hirnschaden, in der Folge konnte der Patient zunehmend besser den Kreislauf halten.
Wir sahen vor allem eine massive Schädigung der Muskulatur mit einem CK-Anstieg über 100.000, Herr Jawotschek wurde dialysiert. Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt auf der Intensivstation blieb die Dialysepflichtigkeit, die Nieren hatten einen irreversiblen Schaden bekommen. Ansonsten blieb er ohne erkennbare neurologische Defizite. Die fragliche Suizidalität führte dazu, dass Herr Jawotschek über einen Aufenthalt in der Psychiatrie ausgeschleust wurde. Dort wurde über den Sozialdienst umfangreiche Hilfe organisiert, alles sah nach einem echten Neustart aus. Ich habe ihn noch zwei oder drei Mal bei uns im Krankenhaus getroffen. Er auf dem Weg zur Dialyse, ich auf dem Weg zum Dienst. Irgendwann hab ich ihn aus den Augen verloren.
Ihn begleiten meine besten Wünsche für sein neu geschenktes Leben. Es wäre zu schön um wahr zu sein, wenn er den Neustart auch langfristig schafft.Wir tun gut daran aufeinander zu achten und diese Aufgabe nicht nur den professionellen (bezahlten) Rettern zu überlassen. Mittlerweile gibt es in fast allen deutschen Großstädten die Kältebusse (oder sogenannte Mitternachtsbusse), die zu Hilfe gerufen werden können. Ich versuche konkrete Hilfe anzubieten, indem ich einem Menschen in Not ein warmes Baguette (z.B. aus einem der vielen Backshops) oder eine andere schnelle, warme Mahlzeit kaufe. Das ist mehr als eine Spende, ich finde es eine schöne Geste.
Wer sich mal mit dem Thema auseinander setzt wird merken, dass es den meisten vor allem an Gesprächen und sozialen Kontakten fehlt. Ein offenes Wort ist da manchmal genauso hilfreich. Und gibt man jetzt 5 Euro in dem Wissen, dass davon Alkohol gekauft wird? Die Antwort ist – selbstverständlich! Es ist nicht meine Aufgabe mein Gegenüber von einer asketischen Lebensweise zu überzeugen. Die wissen alle selber, was sie ihrem Körper zumuten. Es gilt wie fast immer – irgendwas tun ist besser als nichts zu tun.
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Bildquelle: Matt Collamer, unsplash