Im Dezember machte Novartis mit einer umstrittenen Medikamentenlotterie Schlagzeilen. Die zweite Losrunde wurde jetzt scheinbar ausgesetzt. Was ist passiert?
Über Medikamentenpreise lässt sich hervorragend streiten. Besonders in Deutschland flammt die Diskussion über die Grenzen des Angemessenen immer wieder auf. Auf internationaler Ebene rückte zuletzt Sovaldi©, ein Medikament gegen Hepatitis C aus dem Hause Gilead, in den Fokus. „700-Euro-Pille lässt Krankenkassen zittern“, titelte zum Beispiel die Welt.
Im Mai 2019 wurde dieses ehemals teuerste Medikament der Welt dann aber abgelöst (DocCheck berichtete). Neuer Spitzenreiter ist das Gentherapeutikum Zolgensma® von Novartis. Das Pharmaunternehmen rechtfertigt den exorbitanten Preis von 2,1 Millionen Dollar pro Dosis (ca. 1,9 Mio. Euro) mit dem schwierigen Herstellungsprozess, aktuell sei nur ein Werk für die Produktion des Medikaments lizensiert.
Man darf sicher unterstellen, dass auch der geringe Bedarf bei der Preiskalkulation eine Rolle spielt. Denn die Krankheit, die mit dem enthaltenen Wirkstoff Onasemnogen-Abeparvovec bekämpft werden soll, ist die spinale Muskelatrophie (SMA). Diese neuromuskuläre Erkrankung ist selten, etwa eins von 10.000 Neugeborenen ist betroffen. Das Mittel gilt als Orphan Drug, die Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Agentur steht noch aus und wird für das erste Halbjahr 2020 erwartet.
Ein weiteres Argument für den außergewöhnlichen Preis dürfte sein, dass es schlicht die einfachere, verbesserte Alternative zum bereits erhältlichen Medikament gegen SMA ist. Zolgensma® muss nur einmal verabreicht werden, Spinraza© (Wirkstoff: Nusinersen) muss immer wieder in die Rückenmarksflüssigkeit gespritzt werden. Ironischerweise kann die Behandlung dann sogar teurer werden, weil sie sich oft über mehrere Jahre hinzieht.
In der Debatte um derlei Rechtfertigungen für Arzneimittelpreise stieß Novartis dann im vergangenen Dezember Betroffene und Beobachter gleichermaßen vor den Kopf. Die Einmalsdosis zum Millionenpreis sollte verschenkt werden – allerdings im Losverfahren (DocCheck berichtete). Je 100 Dosen weltweit sollen pro Losrunde vergeben werden. Eine Runde fand bereits statt, die nächste war für den 17. Februar geplant, berichtet die Zeit. Wie viele Losrunden es insgesamt geben soll, ist noch nicht klar.
Doch dazu wird es nun wohl nicht kommen. Anfang dieser Woche wurde bekannt, dass Novartis das Losverfahren wohl überdenken wolle. Gegenüber MDR Aktuell spricht die Firma von einem Dilemma: „Wir haben einfach nicht so viele Dosen zur Verfügung wie wir gerne hätten. Bei aller Kritik an diesem Verfahren mangelt es bislang an Vorschlägen für bessere Alternativen.“
So zynisch es scheint, das Losverfahren ist in seiner Zufälligkeit möglicherweise der einzige Ausweg aus diesem Dilemma. Trotzdem ist es eine bittere, ja unmenschliche Lösung – wenn schon der Zufall der Genetik über die Gesundheit eines Kindes entscheidet, sollte dann auch dem Zufall die Chance auf Therapie und sogar Heilung überlassen sein? Und wenn der Preis der unter Umständen lebensrettenden Dosis bekannt ist, bedeutet das im Umkehrschluss, dass dieses Leben genau diesen Preis, knapp 2 Millionen Euro, wert ist?
Doch auch die Herstellerseite muss gesehen werden. Moderne Medikamente werden immer komplizierter in der Fertigung, die Rezepturen immer spezieller. Und bei einer geringen Anwenderzahl werde auch die Sicherheit und Effizienz der Arzneien immer ungewisser. Denn kleine Studien sind nicht sehr aussagekräftig und bei geringen Produktionsauflagen stellt sich keine Routine ein. Medizinethiker Norbert Paul meint dazu im Gespräch mit der Welt: „Man muss sich da nichts vormachen: Bei so kleinen Patientengruppen wird es immer häufiger Preise geben, die unser Versorgungssystem im Kern herausfordern. Hierüber muss es einen breiten gesellschaftlichen Diskus geben“, fordert er.
Ein Zusammenschluss aus deutschen Krankenkassen, dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und Universitätskliniken forderte schon im November 2019, gesetzliche Regelungen für diese Sonderfälle zu etablieren. In ihrem Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kritisieren sie auch das Vorgehen von Novartis: „[Es kann] nicht ohne Widerspruch hingenommen werden, wenn bereits ohne eine Zulassung anstelle eines Härtefallprogramms (Compassionate Use) über eine beispiellose Medienkampagne ein erheblicher Druck auf Krankenkassen und Ärzte entfaltet wird, das nicht zugelassene Medikament zu Lasten der Versichertengemeinschaft vorab einzusetzen.“
Dass die Verlosung genau zu dem Zeitpunkt stattfand, an dem die EMA über die Zulassung und Erstattung des teuersten Medikaments der Welt entscheiden wird, stieß auch weiteren Kritikern sauer auf. Arzneimittelpreise sollten generell nicht den Gesetzen des Marktes unterworfen sein, fordern andere. Denn: „Dann entstehen völlig überhöhte Preise wie bei Zolgensma© oder vielen anderen Medikamenten, etwa in der Krebsbehandlung. Das ist ethisch nicht zu rechtfertigen“, meint zum Beispiel der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.
Grundsätzlich müsse die Erforschung und Produktion solcher Therapien und Medikamente aber attraktiv für die Pharmafirmen bleiben, um Fortschritt und Innovation nicht zu behindern. Ein Kompromiss könnte das Härtefallprogramm sein, was von Novartis schon im November vergangenen Jahres auf den Weg gebracht wurde. Betroffene, die für eine Behandlung infrage kommen, können sich im Rahmen des Programms bei ihrem betreuenden Arzt melden, der wiederum beim Zulassungsinhaber des Mittels, Avexis, anfragt.
Doch das Verfahren entwickelt sich schleppend, berichtet unter anderem die Deutsche Apothekerzeitung. Im ersten Halbjahr 2020 sollen, laut Hersteller, außerdem bloß 50 Dosen weltweit für das Programm zur Verfügung stehen. Und auch die EU-Zulassung von Zolgensma© kommt offenbar nicht richtig voran. Eine zukunftsweisende Lösung sieht anders aus. Doch es bleibt die Frage, ob Firmen wie Novartis in solchen Fällen überhaupt eine richtige Entscheidung treffen können. Eine Entscheidung, die Patienten, Angehörige, Ärzte, Hersteller und Medizinethiker als gerecht empfinden.
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