OP-Mindestfallzahlen sorgen für Frust, sagen Ärzte. „Gelegenheitschirurgie gefährdet Leben“, sagt die Barmer. Wer hat Recht?
„Gelegenheitschirurgie gefährdet Leben“, heißt es im kürzlich publizierten Barmer-Krankenhausreport 2020. Ein paar Zahlen aus der Analyse: Pro Jahr sterben 100.000 Patienten nach einer OP, jedoch wären viele dieser Todesfälle vermeidbar – durch Eingriffe in Krankenhäusern mit doppelt so hohen Fallzahlen. Allein bei der chirurgischen Therapie von Pankreas- und Darmkrebs kommen die Autoren auf 3.800 Todesfälle weniger in zehn Jahren.
„Eingriffe sind in der Regel sicherer, wenn Chirurgen und das interdisziplinäre Team mit der Patientenversorgung vor und nach der Operation viel Erfahrung haben“, erklärt Prof. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer. Das alleine rette aber noch nicht automatisch Menschenleben. „Die Voraussetzung für einen guten Outcome ist eine hohe Prozess- und Strukturqualität“, etwa durch interdisziplinäre Teams und eingespielte Abläufe.
Das Problem geringer Fallzahlen ist hinlänglich bekannt. Mit der gesetzgeberischen Idee der Mindestmengen sollen schwierige Eingriffe sicherer werden, weil Ärzte mehr Routine bekommen, so die Idee. Kliniken dürfen bestimmte Eingriffe nur dann durchführen, wenn sie auf eine gewisse Anzahl im Jahr kommen. Momentan gibt es diese Mindestfallzahlen in folgenden Fällen:
Was tun Klinikkonzerne also? Sie reagieren auf den entstehenden Druck, indem sie innerbetrieblich umzustrukturieren, um das Planziel zu erreichen. Schließlich möchte man bei den Mindestmengen an vorderster Front mitspielen. Denn werden diese nicht eigehalten, droht so mancher Klinik der Verlust ihres Status als spezialisiertes Zentrum. Dadurch fallen Zuschüsse der Krankenkassen weg, die für den Erhalt mancher Stellen enorm wichtig sind.
Ärzte bekommen diesen Druck zu spüren. Sie stimmen bei Direktiven von oben mit den Füßen ab – und suchen sich andere Häuser: eine Erkenntnis, die Stephan Sturm laut FAZ eingeräumt hat. Er ist Chef der Helios-Muttergesellschaft Fresenius. „Wir sind etwas zu weit gegangen, was unsere Vorbereitungen auf immer weiter steigende Minimalfallzahlen angeht, ab denen [die Kliniken] erst Anspruch auf Vergütungen haben – wir haben schon den nächsten und den übernächsten Schritt vorweggenommen“, sagte Sturm. „Das erzeugte ein bisschen Frustration in unserer Organisation. Das führte zu mehr offenen Stellen, als wir gewohnt sind.“ So deutliche Worte hört man selten.
Auch zu den Patienten dringt das Thema Mindestfallzahl immer häufiger durch. So veröffentlichte die AOK vor wenigen Monaten eine „Mindestmengen-Transparenzkarte“ sowie eine „Mindestmengen-Transparenzliste“ – verbunden mit klaren Botschaften.
AOK-Vorstand Martin Litsch macht sich für die Ausweitung der Mindestmengen-Regelungen stark. Patienten können – oder sollen – anhand von Mindestmengen öfter als bisher Entscheidungen für elektive Eingriffe treffen.
„Mit unserer Online-Karte geben wir Patienten Orientierung, welche Kliniken die Mindestmengen-Regelung einhalten – aber wir zeigen auch, wo Klinikärzte erstmals oder auf Basis von Ausnahmegenehmigungen des Landes operieren“, sagt Litsch. „Vor allem die bisher unveröffentlichten Fallzahlen aus den letzten anderthalb Jahren können Patienten, die vor einer planbaren Operation stehen, bei der Wahl einer passenden Klinik helfen.“
„Ich halte von den Mindestmengen als alleinige Kriterien nichts. Es handelt sich ja nur um eine Zahl aus einem Jahr“, sagt ein erfahrener Nephrologe, der anonym bleiben möchte, gegenüber den DocCheck News. Der Grundgedanke, Patienten zu schützen, indem man sicherstellt, dass nur erfahrene Chirurgen komplizierte Eingriffe vornehmen, sei ja generell nicht verkehrt. Als alleiniges Kriterium jedoch den Kliniken jährliche Mindestmengen vorzuschreiben, hielten er und viele andere Ärzte für Unsinn. So sei ein routinierter Chirurg, der einen speziellen Eingriff schon 100 Mal in seinem Berufsleben durchgeführt hat, sehr qualifiziert, auch wenn er in den letzten zwei Jahren nur 15 bis 20 Mal zu diesem Eingriff kam – vielleicht sogar qualifizierter als ein junger Chirurg in einer Klinik, in der diese OP im letzten Jahr 30 Mal gemacht wurde, argumentiert der Arzt.
Eine Vorgabe wie diese könne beispielsweise im Bereich der Transplantationsmedizin sogar zum Nachteil einiger Patienten werden: „Wenn aus Druck von Oben zum Beispiel schlechter geeignete Spenderorgane angenommen werden, um einen Eingriff doch noch auf seine Liste schreiben zu können, dann ist das fatal. Dann leidet die Qualität, nur um die vorgegebenen Zahlen realisieren zu können“, findet der Mediziner.
Aus Sicht der Versorgungsforschung spricht jedoch viel für Mindestmengen. Im Februar hat sich das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit neuen Daten zu Wort gemeldet. Wissenschaftler fanden bei der chirurgischen Behandlung des primären Mammakarzinoms einen positiven Zusammenhang zwischen der Leistungsmenge und der Qualität.
„In Krankenhäusern mit höheren Fallzahlen und bei Ärzteteams, die viele Brustkrebsoperationen durchführen, sind die Überlebenschancen für die operierten Brustkrebspatientinnen insgesamt höher“, schreibt das Institut. Zudem seien weniger Folgeeingriffe notwendig. Das klingt gut. Am Ende gibt es jedoch auch in dem Bericht des IQWiG keine klare Aussage über den Sinn von Mindestmengen. So lautet das Fazit dort am Ende: „Für die Untersuchung der Auswirkungen von konkret eingeführten Mindestfallzahlen konnten keine aussagefähigen Studien eingeschlossen werden.“
Wäre es dann nicht sinnvoller, statt blanker Mindestmengen die Komplikationsrate und die Letalität als Indikatoren für die Qualität einer Klinik heranzuziehen und diese zu erfassen?
Wie es derzeit mit den Mindestmengen gehandhabt wird, ist nach Ansicht unseres anonymen Mediziners nicht besonders sinnvoll. „Ich persönlich finde, es sollte andere Kriterien geben, um die Expertise und die Qualität der Chirurgen zu bestimmen. Ich kann zum Bespiel nicht bestätigen, dass im Bereich Transplantationsmedizin sichtbar ist, dass Zentren mit einer hohen Anzahl auch immer die mit weniger Komplikationen oder Fehlern sind. Das korreliert in unserem Bereich nicht unbedingt.“ Er finde es aber okay, wenn es Kontrollen in anderer Form gäbe. Eine einfache Zahl sei aber eher kontraproduktiv. „Im Zweifel werden dann vielleicht sogar fragwürdige Eingriffe durchgeführt, nur um die Zahlen einzuhalten, aber auf Kosten der Qualität.“
Wie soll man dann für Qualitätsstandards sorgen, wenn die Mindestmenge noch nicht die wahre Lösung ist? Eine Erfassung von Verlaufskontrollen hält der von uns interviewte Arzt für sinnvoll. Auch eine Definition der Ziele, welche sich an der Durchschnittsqualität orientieren, fände er gut. „Im Bereich der Transplantationsmedizin gibt es schon viele Kontrollen und es fällt auf, wenn es in einem Haus zu vielen Komplikationen kommt. Die Komplikationsrate und die Letalität sind ja gute Parameter für die Qualität der Eingriffe. Ihre Erfassung wäre in allen Bereichen sinnvoll.“
Wie entspannt man dem Thema Mindestfallzahl begegnen kann, hängt davon ab, auf welcher Seite man steht. Die großen Krankenhäuser haben es da deutlich besser als der Rest. „Mit Sicherheit sind die kleineren Kliniken hier viel mehr betroffen. Wieder mal. Sie sind oft auf ihren Status beispielsweise als Transplantationszentrum oder Neonatologisches Zentrum angewiesen, um sich noch zu finanzieren. Wenn sie diesen Status verlieren, weil sie ein paar Jahre hintereinander die Mindestmengen nicht eingehalten haben, dann ist das oft ihr finanzieller Ruin“, fasst der Nephrologe die Situation zusammen.
Bei der Diskussion um Qualität und Evidenz dürfen wir eine Sache nicht vergessen. Wir brauchen nicht nur Lösungen für komplexe OPs, sondern eine flächendeckende Versorgung. Kommen uns Fachärzte durch Fluktuation abhanden und entscheiden sich Patienten – unabhängig vom Eingriff – eher für die „gehypten“ Häuser, haben wir ein generelles Problem.
Bildquelle: JC Gellidon, unsplash