Manche Patienten wollen weiter rauchen, selbst wenn sie so ein Bein verlieren. Andere wollen sterben, weil sie nicht mehr können. Wo ziehe ich die Grenze zwischen ärztlicher Verantwortung und der Selbstbestimmtheit des Patienten?
Was ist die Maxime des ärztlichen Handelns? Als junge Medizinstudentin ist man noch sehr enthusiastisch (und naiv) und denkt an sowas wie „möglichst den Menschen helfen“, „damit es ihnen besser geht“ oder „sie wieder gesund werden“. Schon etwas realitätsnäher ist der bereits mehrfach erwähnte Grundsatz „vor allem nicht schaden“.
Dann schlägt man im ärztlichen Alltag auf. Und man stellt fest, dass das Leben als Arzt nicht immer mit diesen Grundsätzen in Einklang zu bringen ist. Viele Menschen können wir nicht gesund machen, sondern sie nur in ihrer Krankheit begleiten und ihnen vielleicht dabei helfen, diese zu „managen“ (siehe die berühmt-berüchtigten Disease-Management-Programme).
Auch das Ziel unserer Hilfe muss gründlich überdacht werden. Denn das ursprüngliche ärztliche Ziel, Krankheiten möglichst zu vermeiden und zu heilen, wird in Zeiten der möglichst großen Patientenautonomie immer schwieriger. Was, wenn der Patient meine Hilfe gar nicht will? Oder meine Hilfe nicht zu seinem Lebensentwurf passt? Wenn er weiter rauchen möchte, obwohl ich ihm sagen muss, dass er dann über kurz oder lang sein Bein verlieren wird oder ähnliches? Oder er die ganzen Tabletten, die ich ihm dann leitliniengerecht empfehle, nicht nehmen will. Was ist dann meine Handelsmaxime?
Noch schwieriger wird es, wenn eigentlich gesunde Patienten medizinische Eingriffe wollen, die ja bekanntermaßen nie ohne Risiko sind. Im Netz liest man immer wieder Artikel zum Thema Sterilisation junger Frauen. Da ist dann häufig von extremer Bevormundung durch Ärzte die Rede, wenn diese den Eingriff nicht sofort machen wollen. Ich glaube, den meisten Ärzten geht es nicht um Bevormundung. Aber es geht schon darum, unsere Vorstellung ärztlichen Handelns („vor allem nicht schaden“) mit dem heutigen Wunsch nach maximaler Autonomie in Einklang zu bringen. Ich kenne Patienten, die sogar bei medizinisch indizierten Eingriffen schweren Schaden genommen haben oder gar gestorben sind. Und ich weiß, wie sehr einen solche Situationen belasten, wenn man den entsprechenden Eingriff empfohlen hat.
Was passiert denn mit den Ärzten, die einen Eingriff an einem gesunden Patienten durchführen (denn eine Sterilisation bei einer jungen Frau ist ja meistens genau das) und DANN kommt es zu einem Schadensfall wie Narkosekomplikationen oder Wundheilungsstörungen? Dann habe ich als Arzt nicht mal mehr den Trost, dass ich versucht habe, eine Krankheit zu behandeln. Ich kann mich höchstens darauf zurückziehen, dass der Patient „das ja so gewollt hat“. Aber ich glaube, dass das nur ein sehr begrenzter Trost ist.
Und ja, liebe Patienten: Auch wenn ihr uns sagt, dass wir einen Eingriff durchführen oder ein Medikament verschreiben sollen, ist es immer noch unsere Verantwortung, mit der wir leben müssen. Natürlich müssen die Patienten noch direkter mit den Folgen leben und das soll nicht heißen, dass ich diese Folgen kleinreden möchte. Aber ich möchte darauf aufmerksam machen, dass auch wir diese Entscheidungen mit (er)tragen müssen – ebenso wie die manchmal auftretenden Vorwürfe.
Denn selbst wenn diese Entscheidung eigentlich in Einvernehmen getroffen wurde – Menschen ändern sich und leider kann das auch dazu führen, dass man im Nachhinein mit getroffenen Entscheidungen unglücklich ist. Und dann ist es leider nur zu menschlich, die Verantwortung für die „Fehl“-Entscheidung nachträglich abzuschieben. Auch diese Vorwürfe müssen wir aushalten – egal, ob wir sie gerechtfertigt finden oder nicht. Denn nach der aktuellen gesellschaftlichen Stimmung (und Rechtsprechung) sollen wir vor allem eins, nämlich den Patientenwillen ausführen.
Auf die Spitze getrieben wird diese Problematik „Patientenautonomie“ vs. „vor allem nicht schaden“ in der Sterbehilfe-Diskussion. Durch den neuen Gesetzentwurf, der vorsieht, Suizidhilfe durch Ärzte nach Beratung für Sterbewillige zu ermöglichen, ist sie aktueller denn je. Sterbehilfe ist per definitionem natürlich ein Schaden, den ich dem Patienten zufüge – andererseits kann sie für Patienten am Lebensende auch eine Hilfe und eine Erleichterung sein. Allein das Wissen, dass es möglich wäre, selbstbestimmt zu sterben, ist für manche schon eine extreme Erleichterung. Das ist vor allem eine Einstellung, die ich von ärztlichen Kollegen kenne: Von mehreren Kollegen habe ich gehört, dass sie die Möglichkeit für sich selbst in Anspruch nehmen würden, damit sie den Zeitpunkt des Todes selbst bestimmen könnten. Mit welchem Recht können wir uns selbst diese Möglichkeit offenhalten und gleichzeitig unseren Patienten verweigern?
Eine richtige Antwort auf diese Frage habe ich nicht. Ich kann sagen, dass ich es als Hausärztin gut finde, dass ich meine Patienten über einen längeren Zeitraum begleite und damit wahrscheinlich auch einen intensiveren Einblick in die Gefühlswelt meines Patienten bekomme. Damit kann ich dann versuchen, dem Patienten Lösungsansätze vorzuschlagen, die auf ihn abgestimmt sind. Aber ich möchte als Arzt auch das Recht haben, bestimmte Dinge für mich persönlich nicht durchzuführen.
Natürlich sind diese Grenzen jeweils willkürlich, aber es sind die Grenzen, mit denen ich leben kann. Das ist in meinem Fall vor allem das Abstecken von therapeutischen Grenzen und die Nicht-Eskalation von Therapien (nicht auf Intensivstation, ggf. auch nicht ins Krankenhaus, nicht nochmal zur OP etc.). Aber auch das Abschirmen am Lebensende mit sedierenden Medikamenten, wenn der Patient dies wünscht. Auf die Gefahr hin, dass es das Leben verkürzt. Mit einer aktiven „Todesspritze“ würde ich mich, zum jetzigen Zeitpunkt zumindest, sehr schwer tun.
Das ist, wie gesagt, meine sehr persönliche Meinung und das kann jeder Arzt für sich anders sehen. Aber Arzt und Patient müssen auch da, wie so oft, zueinander passen.
Denn ich glaube, es haben beide ein Recht auf Selbstbestimmung. Der Patient – und auch der Arzt.
Bildquelle: Susan Yin, unsplash