60 Patienten, eine Pflegekraft. Dieser untragbare Zustand ist vielerorts leider Realität. Jetzt kommt noch das Coronavirus dazu. In Aachen muss das medizinische Personal trotz direktem Kontakt mit COVID-19-Patienten weiterarbeiten. Ich bin fassungslos.
Manchmal ist es doch ganz schön, wenn man Dinge geklärt, reinen Tisch gemacht hat. Keine falschen Annahmen mehr, keine Unsicherheit.Zumindest die Mitarbeiter an der Uniklinik Aachen sollten spätestens jetzt genau wissen, wo sie stehen. Die Mitarbeiter dürfen auch nach Exposition und direktem Kontakt mit Coronapatienten weiter arbeiten gehen, sonst würde nämlich die Versorgung zusammenbrechen. Während der Kreis Heinsberg nach mehr medizinischem Personal ruft, sagt Aachen: „Alles halb so wild“. Bei Hochrisikoexposition bleiben alle zuhause – nur bitte nicht das medizinische Personal.
Für unsere Arbeitszeit und unseren Arbeitsschutz gelten wie für viele weitere Bereiche andere Regelungen, Gesetze und Empfehlungen. Wir müssen etwas ganz besonderes sein.
Als die Schutzkleidung knapp wurde, wurde als erstes die Isolationspflichtigkeit angepasst. Jahrelang gültige Regelungen, die bestimmen, wie wir mit erheblichem Aufwand isolieren und zum Beispiel erst nach Anlage von erweiterten Schutzmaßnahmen, Patienten mit multiresistenten Erregern untersuchen und behandeln sollen, sind auf einmal nicht mehr so wichtig. Unter der Hand gab es die Anweisung, mehrere Patienten mit einem Kittel zu untersuchen, Schutzkittel sollen bitte mehrfach verwendet werden und nicht direkt weggeworfen werden.
Bevor es nämlich unbequem, aufwändig oder sogar teuer wird, weil man OPs absagen muss, Betten sperren oder sogar (Intensiv)stationen abmelden müsste, ändert man lieber die Hygienepläne. Zur Not auch gegen die Empfehlung des RKI, siehe Aachen.
Alle Kollegen, die im Krankenhaus arbeiten und nicht nur Merci-Packungen verteilen und darüber reden, wissen, wie es um unser Gesundheitssystem bestellt ist. Es ist ein röchelnd hustender, ausgemergelter und zeitweise nur noch ermattet zuckender Patient. Wenn Besuch kommt, dann wird er geschminkt, frisch angezogen und ins Stühlchen gesetzt. Das ändert nichts am Grundproblem, aber der Besuch kann beruhigt nach Hause fahren und muss das ganze Elend nicht sehen.
Bei Zertifizierungen wird sich gegenseitig in die Tasche gelogen, echte Defizite werden nicht angesprochen oder gar behoben, sondern wenn überhaupt immer nur provisorisch geflickt. Die Grenze des Machbaren wird stetig weiter verschoben.
Ich will das an einem Beispiel klar machen. Auf einer internistischen Normalstation mit 10 Zimmern à 3 Betten waren nachts immer zwei examinierte Pflegekräfte und meist ein Schüler anwesend. Überflüssig zu erwähnen, dass diese Patienten weit weniger pflegebedürftig waren, als sie es heute sind. Das war ungefähr Ende der 90er Jahre. Irgendwann wurden die Schüler als gleichwertige Pflegekraft gezählt. Nachts waren jetzt meist eine examinierte Pflegekraft und Schüler für eine Station mit 30 Patienten zuständig. In den folgenden Jahren wurde die Stelle der Schüler gestrichen, eine Pflegekraft für eine Station musste reichen.
Wir reden immer noch von Patienten, nicht von Bewohnern. Patienten die Schmerzen haben, denen der Verband durchblutet, die auf dem Weg zur Toilette stürzen. Patienten, denen man aufhelfen muss und die wieder ins Bett gebracht werden müssen. Patienten, die sich übergeben und in ihrem Erbrochenen liegen und bei denen das Bett dann eben auch nachts um 3 Uhr neu bezogen werden muss. Patienten mit Angst und Schlaflosigkeit, die eine Schlaftablette haben möchten. Patienten, die Luftnot bekommen und die dem Dienstarzt vorgestellt werden müssen. Patienten, bei denen Akutanordnungen gegen Luftnot gemacht werden und bei denen diese Medikamente fachgerecht oral, inhalativ oder intravenös verabreicht werden müssen.
Für all diese Patienten gibt es also nachts eine Pflegekraft. Auf dem Papier ist das auch immer noch so – nur fehlt das Personal. Anstatt durch ernsthafte Handlungspläne den Beruf attraktiver zu machen (bessere Bezahlung, Anpassung der Arbeitszeiten, Betriebskindergarten etc.) und für echte Entlastung zu sorgen (durch Einstellung von Fachkräften, aber auch HIlfspersonal, z.B. zur Blutentnahme, zur Essensausgabe etc.) bleibt alles beim Alten.
Als die Dienstpläne immer löchriger wurden, hat man sich etwas Pfiffiges überlegt. Gegenüberliegende Stationen bzw. Stationen, die auf einer Ebene liegen, werden funktionell zusammengefasst. Statt also wie bisher bis zu 30 Patienten zu versorgen, versorgt eine Pflegekraft aktuell nachts bis zu 60 Patienten. Problem gelöst, der Dienstplan hat keine Lücken mehr und Geld haben wir auch noch gespart.
60 Patienten für eine Pflegekraft. Das ist genauso wahnsinnig, verantwortungslos und zum Scheitern verurteilt, wie es sich anhört. Ich habe Menschen morgens tot im Bett liegend gefunden, die zuletzt vom Spätdienst gesehen wurden. Einfach, weil keine Zeit war für eine normale Zimmerrunde.Das ist dann eben so, ein schicksalhafter Verlauf, herzliches Beileid, weitermachen.
Und wer glaubt, dass es nicht schlimmer geht, hat noch nicht den Plänen von teuer bezahlten Beraterfirmen gelauscht, die immer noch Einsparpotenzial sehen. Immer mehr Chefärzte führen stolz einen MBA im Titel, das ist ein Master of Business Administration. Mit diesem berufsbegleitenden Studiengang sollen besondere Kenntnisse in Betriebswirtschaft, Controlling und Finanzwesen nachgewiesen werden.
Viel wichtiger als medizinische Inhalte sind finanzielle Aspekte. Das wissen wir seit Jahren, aber so richtig gerne mag das keiner mehr hören. Wir sollen weiter arbeiten und das Krankenhaus soll Geld erwirtschaften. Geld verdienen mit Menschen, die krank sind. Das ist genauso wahnsinnig, verantwortungslos und zum Scheitern verurteilt, wie es sich anhört.
Wir sind Helfer. Wir sind Spezialisten in Teilgebieten der Medizin mit unterschiedlichen Aufgaben. Was uns alle vereint: Wir wurden in unserer ganzen Ausbildung darauf trainiert und spezialisiert, Menschen zu helfen. Wir haben es nie gelernt, Bedingungen zu stellen. Bis heute heißt es, wir müssten da durch, sollen runterschlucken, akzeptieren.
Wir sehen die Auswirkungen maroder Finanzplanung und versuchen diese durch noch mehr Dienste und noch mehr Verzicht auf Freizeit und Erholung zu kompensieren. In den Diensten selber ist die Arbeitsbelastung teilweise absurd hoch.
Ich hätte gestern im Spätdienst problemlos drei Kollegen beschäftigen können. Ich war aber alleine, also habe ich das gemacht, was zwingend notwendig war und das, was sinnvoll und notwendig gewesen wäre, nach hinten geschoben. Ein ZVK-Wechsel bei ansteigenden Infektwerten? Muss der nächste Dienst machen, hoffentlich schaffen die das. Vielleicht hat der Patient bis dahin eine Sepsis. Das ist dann eben so, ein schicksalhafter Verlauf, herzliches Beileid, weitermachen.
Wir drehen uns im Kreis. Immer mehr Arbeit mit immer weniger (Fach)personal. Jeder weiß es, niemand ändert etwas. Wir fahren weiter auf Kurs Kollision.
Das, was in Aachen gemacht wurde, war wieder mal eine solche Verschiebung der Machbarkeitsgrenze. In Aachen gibt es noch sehr leisen Widerstand – nichts, was die Klinikleitung an ihrem Vorhaben hindern könnte. Die nächsten Kliniken werden sich still und leise anschließen, irgendwann ist es dann der neue Standard. Machen ja alle so.
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